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AA - ein Seniorenclub?


​Im Folgenden ein Vortrag von Dr. Friedrich Ingwersen, gehalten auf dem Deutschsprachigen Jahrestreffen von AA und Al-Anon im Congress Center Hamburg am 30.04.2004, in dem auf die Frage der "Überalterung" in AA und die möglichen Ursachen eingegangen wird.

 

Tatsächlich lässt sich weltweit beobachten, dass die Gemeinschaft AA (und auch andere Selbsthilfegruppen) in jenen Ländern am stärksten ist, in denen es keinen gut funktionierenden Sozialstaat gibt - was jedoch keineswegs als Kritik am Sozialstaat verstanden werden soll.

Sind die Anonymen Alkoholiker ein deutscher Seniorenclub geworden?

(Übrigens zieht Hollywood die Anonymen Alkoholiker durch den Kakao)

Mein Name ist Fide Ingwersen, ich bin ärztlicher Psychotherapeut und Psychiater, und ich gehöre zu denjenigen Nichtalkoholikern, die dem Zwölf-Schritte-Programm besonderen Dank schulden. Und zwar bin ich den Anonymen Alkoholikern und den Al-Anon aus zweierlei Gründen dankbar.

 

Zum einen habe ich durch sie als Arzt seit fünfundzwanzig Jahren ein wertvolles Heilmittel in der Hand, indem ich meinen Patientinnen und Patienten ein nachhaltiges Selbsthilfekonzept und eine funktionierende spirituelle Überlebensrezeptur empfehlen kann – und dies nicht nur für die Alkoholkranken und ihre Angehörigen, sondern auch für viele andere von meinen Patientinnen und Patienten, denen ich die Anonymen Essgestörten, die Anonymen Tablettensüchtigen, die Anonymen Spielsüchtigen, die Emotions Anonymous, die Anonymen Sexaholiker und so weiter nennen kann. Darüber hinaus geben mir persönlich sowohl das spirituelle Gedankengut als auch die überaus pragmatischen Sinnsprüche dieses Programms jeden Tag die wesentliche Kraft für meine mitunter sehr schwierigen ärztlichen Entscheidungen.

 

Zum anderen schulde ich den AA besonderen Dank aus privaten Gründen: Als einem Nichtalkoholiker, der das Glück hatte, das Programm über seinen Beruf kennen zu lernen, steht mir seine „Philosophie“ auch für meine eigenen Belange sehr nutzbringend zur Verfügung. In meinen eigenen Krisen sind mir seine Weisheiten offenbar ebenso zu Diensten, wie einem Alkoholiker, der gerade um seine Abstinenz ringen muss. Am eindrücklichsten durfte ich dies erleben, als meine liebe Frau vor fast 3 Jahren durch eine Blutvergiftung aus voller Gesundheit in schwerste Lebensgefahr geraten war. Ohne die Möglichkeit eines Abschiedes fiel sie plötzlich ins Koma, und nachdem die ärztlichen Kollegen endlich die Diagnose gefunden und mich über die extreme Gefahr aufgeklärt hatten, war ich natürlich wie noch nie in meinem Leben vor den Kopf gestoßen und gelähmt. Aber schon nach einer halben Stunde fielen mir all die simplen und kostbaren Überlebenssprüche des Zwölf-Schritte-Programms ein. Zuerst diese beiden: „Nur für Heute“ und: „Das wichtigste zuerst.“ Durch sie wurde ich zu meiner Überraschung sofort handlungsfähig: Ich erkannte, dass ich in meiner Verwirrung bis dahin vergessen hatte, den ärztlichen Kollegen, die sich um meine Frau bemühten, mein Vertrauen auszusprechen, so dass sie ihre Arbeit besser machen konnten. Als ich das nachgeholt hatte, wurde mir klar, dass es als nächstes das wichtigste war, meine eigene berufliche Vertretung zu regeln. Anschließend war es das wichtigste, unsere Kinder zusammenzurufen, in der Nähe des fernen Spezialkrankenhauses, in welches meine Frau inzwischen geflogen worden war, Urlaub zu machen, meine Frau häufig zu besuchen, der Bewusstlosen immer wieder zuzusprechen, und zwischen diesen Besuchen mit den Kindern gut zu essen und zu trinken, gut zu schlafen, viel frische Luft zu tanken, und möglichst viel zu lachen, so weit wir das in der Situation konnten. Das schien mir in jedem Fall die beste Vorbereitung, um möglichst stark für das zu sein, was immer uns bevorstand. Durch Gnade wurde meine Frau bald gerettet und wieder ganz gesund. In meiner heutigen Erinnerung wurden wir Angehörigen damals wie von Engeln durch die Krise getragen, und das dazu gehörende gelungene Krisenmanagement mit seinem „Nur für Heute“ und all dem anderen Ideengut, das verdanke ich dem Zwölf-Schritte-Programm der AA.

 

Und so ist es für mich eine besondere Freude und Ehre, hier heute vortragen zu dürfen. Ich bin ärztlicher Schüler von Walther Lechler, ich leitete bis vor kurzem eine Psychosomatische Klinik, in der Alkoholiker und alle anderen Süchtigen und ihre Angehörigen besonders gerne gesehen wurden. Das Zwölf-Schritte-Programm lieferte in dieser Klinik gewissermaßen die Grundmelodie, auf der all die anderen hochmodernen Verfahren der Psychotherapie, die eingesetzt wurden, aufbauten. Kurze persönliche Anmerkung: Ich möchte dort wieder arbeiten, aber wie es weiter geht, weiß vorerst nur für heute eine verborgene Macht.

 

Ich hatte in der Vergangenheit schon mehrmals öffentlich über die AA vortragen und schreiben dürfen. So hatte ich einmal dargelegt, dass man die Anonyme Bewegung historisch betrachtet eigentlich als ein Wunder bezeichnen müsste, also als etwas, was menschliches Voraussehen nicht hätte erwarten können. Zumal es eben zwei hoffnungslose trinkende Laien waren, die das Programm in die Welt gebracht haben, und nicht etwa, wie menschliches Ermessen vorausgesagt hätte, berühmte Ärzte oder Psychotherapeuten oder Theologen.

 

An anderer Stelle hatte ich dargelegt, dass das Konzept der Anonymen Alkoholiker viele Elemente der mondernsten aktuellen Psychotherapieverfahren – zum Beispiel die Familientherapie - zehn bis zwanzig Jahre wie ein Pionier vorweggenommen hat. Das ist den Anonymen Alkoholikern zweifellos nicht bewusst – warum sollte es auch, ihre Traditionen sehen nicht vor, dass es ihnen wichtig wäre, sich um Urheberrechte zu kümmern, oder was andere mit ihrem Gedankengut machen – wohl mit ihrem Namen, nicht aber mit ihrem Gedankengut. Aber auch die Fachleute sind sich so gut wie nicht bewusst, dass die Anonymen Alkoholiker Vorreiter für ihre wertvollen Methoden sind. Ich halte durchaus den Vergleich mit dem Wikinger Leif Erickson für berechtigt, der schon vor Kolumbus den Neuen Kontinent entdeckt hat, was aber wieder vergessen wurde.

 

Heute möchte ich Ihnen einige Gedanken über neueste Entwicklungen der Anonymen Alkoholiker bringen - zunächst weltweit, und dann speziell in Deutschland.

 

In den Vereinigten Staaten, der Heimat des Zwölf-Schritte-Programms, ist es inzwischen so weit gekommen, dass Hollywood die Anonymen Alkoholiker ordentlich durch den Kakao zieht. Es läuft seit etwa einem halben Jahr ein neuester Trickfilm von Walt Disney mit dem Titel „Findet Nemo“, der ohne Zweifel in der Hälfte der Welt schon jedes Kind und jeden Teenager begeistert hat. Mit Hilfe perfekter Computeranimation wird der Zuschauer in eine dreidimensionale Unterwasserwelt versetzt, und er hat Teil an den Abenteuern eines Fisches, der seinen kleinen Sohn „Nemo“ verloren hat. Auf der Suche nach ihm muss der Vater natürlich viele Abenteuer bestehen, und dabei begegnet er unter anderem einer Gruppe von schrecklichen Haien mit wahrhaft grässlichen Zähnen, die sich als die „Anonymen Fischesser“ zusammengetan haben und vom Raubfischdasein abstinent werden wollen. Ihr größter und schauerlichster eröffnet ein Meeting ganz nach Art der AA: „Hi, ich bin Bruce, ich habe schon seit drei Wochen keinen Fisch mehr gegessen…..“ Die anderen Haie im Chor: „Hi, Bruce!“ Natürlich scheitert seine Abstinenz bald darauf, und Bruce baut einen Rückfall (in Anführungsstrichen), nachdem er einen Tropfen Blut gerochen hat.

 

So werden also die Anonymen Alkoholiker im zeitgenössischen Amerika vom Disneykonzern ziemlich deftig „verhohnepiepelt“, indem sie mit diesen fürchterlichen Haien verglichen werden. Alle Kids in den Staaten, Europa und Japan kennen wahrscheinlich „Bruce“ und das Meeting der „Anonymen Fischesser“. Diese derbe Persiflage ist ohne Zweifel eine verkappte aber massive Liebeserklärung der Traumfabrik Hollywood an die Anonymen Alkoholiker. Schließlich hat Hollywood auch schon vor mehr als zehn Jahren einen seriösen Film über die Geschichte von Bill und Lois und Bob gedreht. Und den Dr.Bob hat in diesem Film damals kein geringerer als der Superfilmstar James Garner, alias Detektiv Rockford (Anruf genügt), gespielt. Auch jüngere Stars wie Michael Keaton und Sandra Bullock sind mittlerweile in vorzüglichen Filmen zum Thema Sucht und AA aufgetreten. Einzelne andere Hollywood-Ikonen hatten sich schon lange als Anonyme Alkoholiker geoutet, wie Liza Minelli und Liz Taylor. Selbst aus der höchsten Etage der Politik sind schon vor 20 Jahren nahe Familienangehörige der Mächtigen als AAs bekannt geworden: Die Präsidentengattin Betty Ford und der Präsidentenbruder Billy Carter.

 

Wenn ich mir diese Phantasiefigur des Anonymen Haifisches „Bruce“ anschaue, dann wird mir klar, dass in den Vereinigten Staaten offenbar inzwischen jedes Kind die Anonymen Alkoholiker kennen muss, anderenfalls hätte das Filmstudio von Walt Disney, dem es um populäres Verstandenwerden gehen muss, nicht eine solche Persiflage daraus gemacht. Das heißt natürlich nicht unbedingt, dass alle Amerikaner das Programm verstanden haben, aber es scheint mir offensichtlich, dass die amerikanischen AA schon lange Zeit aus den Schmuddelecken heraus und im Bewusstsein aller US-Bürger angekommen sind. Es wird darüber hinaus von Fachleuten berichtet, dass Alcoholics Anonymous in den Vereinigten Staaten ein immer jüngeres Durchschnittsalter in ihren Meetings vorfinden. Daraus ergibt sich, dass dort drüben eine Überzahl an Youngsters mit den AA und deren Anliegen und Gebräuchen wenigstens oberflächlich vertraut ist. Und so ist es auch verständlich, wenn ein Hollywood-Film wie „Findet Nemo“, der sich im knallharten Wettbewerb um die Popularität unter den Jugendlichen behaupten muss, eine Persiflage über die dort drüben allseits bestens bekannten und damit zur Alltagskultur vieler Familien und Nachbarschaften gehörenden Anonymen Alkoholiker bringt.

 

Und das ist wahrhaftig eine zutiefst andere Situation als die der deutschen AA. Zwar sind auch sie schon lange aus jeder Schmuddelecke heraus, wo sie in ihren Gründungsjahren – wenn überhaupt – nur kurze Zeit verharrt haben mögen. Zwar ist den Deutschen Anonymen Alkoholikern in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz von Wissenschaftlern, Ärzten und Journalisten jede Menge berechtigte Anerkennung zuteil geworden, zum Beispiel der Herrmann-Simon-Preis - das ist der bedeutendste deutsche Forschungspreis für Psychiatrie. Aber selbst die Tatsache, dass unser Bundespräsident ihnen im letzten Jahr eine überaus ehrenvolle Grußadresse zum Jubiläum gewidmet hat, und darüber hinaus die große Kraft, die jeder heute auf diesem Jahrestreffen erlebt, - all dies ändert nichts daran, dass diese gesellschaftlich so wertvolle Gemeinschaft hierzulande vergleichsweise ein Schattendasein führen muss, wollte man als Maßstab die Situation in den Vereinigten Staaten anlegen.

 

Wie alle Kinder auf der Welt freut sich auch jedes Kind in Deutschland über die bizarren Gags und die Abenteuer, die Nemos Vater, der Fisch, und die anderen computer-animierten Meereswesen in dem Film bestehen müssen. Diese Szene mit den „Anonymen“ Haifischen ist besonders aufregend – aber: Kaum ein Kind in Deutschland dürfte diese Anspielung auf die AA verstehen. Kein prominenter Filmstar wie drüben Liz Taylor oder Liza Minelli vermarktet – haarscharf an den zwölf Traditionen vorbei - seine AA-Zugehörigkeit. Stattdessen muss hierzulande das bittere Los des so beliebten Top-Schauspielers und begnadeten Komödianten Harald Juhnke als Dauerpflegefall vermarktet werden. Keiner unserer Spitzenpolitiker kann eine Gattin oder einen Bruder aufweisen, der sich als AA outet.

 

Wenn man diesen Vergleich des jeweiligen Stellenwertes der AA in der jeweiligen Gesellschaft zwischen den USA und Deutschland weiterführen will, kommt es für die deutsche AA scheinbar noch viel schlimmer: Während in anderen Ländern das Durchschnittsalter in den Meetings immer jünger wird – vor allem den USA -, geht das Durchschnittsalter der deutschen Meetings zur Zeit nach oben. Einige deutsche AA sorgen sich schon seit Jahren, ob sie überaltern. Nach einer stürmischen Ausbreitung der Bewegung in den sechziger und vor allem in den siebziger Jahren, die schließlich zu einem dichten Netz von starken Meetings über allen deutschsprachigen Ländern geführt hat, welches täglich vielen tausenden Betroffenen und ihren Angehörigen Stabilität, Freundschaft und Trost bietet, bleibt seit spätestens zehn Jahren merklich ein jüngerer Nachwuchs aus. Was ist los in den deutschen Meetings, oder besser gesagt, was fehlt ihnen? Warum haben in Deutschland die Anonymen Alkoholiker nicht denselben Bekanntheitsgrad unter den Jüngeren? Warum werden die Teilnehmer in amerikanischen Meetings immer jünger und in deutschen Meetings immer älter?

 

Sicherlich dürfte ein Erklärungsfaktor für dieses Phänomen die Überalterung der gesamten deutschen Gesellschaft sein, ein Problem, das die USA nicht in diesem Ausmaß haben. Der aus Amerika kommende Spruch vom „Alten Europa“ trifft für Deutschland ohne Zweifel vielfältig zu, und wir alle müssen uns offensichtlich bald überlegen, wie lange wir noch an hergekommenen Klischees bezüglich Jugend und Alter festhalten wollen. Da uns in Deutschland in allen Bereichen der Nachwuchs bald ausbleibt, werden wir uns vielleicht schon in den nächsten Jahren auf ziemlich radikale Änderungen von Teilen unseres Weltbildes umstellen müssen. So sagen zum Beispiel Experten voraus, dass unsere Gesellschaft es sich nur noch kurze Zeit leisten kann, qualifizierte Menschen in ihren Sechzigern zum „Alten Eisen“ erklären zu wollen. Man wird nach Auskunft dieser Experten schon in naher Zukunft nicht mehr auf deren Erfahrung und Fähigkeiten verzichten können, und daraus wird sich wohl ergeben, dass die Lebensarbeitszeit wieder ansteigen muss, und wir entsprechend später in Rente gehen. (Nebenbei gesagt: Radikale Umstellung des Weltbildes dürfte für Sie, die Anonymen Alkoholiker, kein besonderes Problem sein, das haben Sie ja schon üben können, als Sie damals um Ihre Abstinenz ringen mussten.)

 

Zurück zu meiner Fragestellung: Reicht der demographische Faktor, also die Gesamtüberalterung der deutschen Gesellschaft, als Erklärung dafür aus, dass die Teilnehmer der Meetings von AA und Al-Anon durchschnittlich von Jahr zu Jahr immer älter werden? Ich glaube, diese Frage mit „Nein“ beantworten zu können. Denn wenn auch die Deutschen – wie uns die Presse regelmäßig berichtet - in ihrer Gesamtstatistik von Jahr zu Jahr weniger Nachwuchs haben, wenn also der Gesamtanteil der jungen Jahrgänge in unserem Lande kontinuierlich sinkt, so kann man doch keineswegs feststellen, dass die Presse nun berichten könnte, dass der Anteil der Alkohol missbrauchenden Jugendlichen gleichermaßen absinken würde. Im Gegenteil, nach allem, was man hierzu hört und liest, nimmt der Alkoholmissbrauch in den jüngeren Jahrgängen weiter in Besorgnis erregender Weise zu – zum Beispiel mit den jetzt in Mode gekommenen so genannten Alcopops, dabei handelt es sich um süße aber gefährliche Longdrinks.

 

Der jugendliche Alkoholismus nimmt in Deutschland also zu, und gleichzeitig werden die Meetingsteilnehmer in Deutschland durchschnittlich immer älter. Stimmt also etwas nicht mit den Deutschen AA? Ich kenne manche Freundinnen und Freunde in AA, die sich solche besorgten und selbstkritischen Fragen stellen. Wird zu wenig oder das Falsche getan, um neue jugendliche Mitglieder zu gewinnen? Wie kommt es nur, dass die amerikanischen Meetings im Durchschnitt immer jünger werden und die deutschen immer älter? Ich höre manchen selbstkritischen Erklärungsversuch einzelner AAs, dass es mit einer typisch deutschen Verknöcherung und geistigen Unbeweglichkeit zu tun haben müsse, was die Verhältnisse bei uns so von den US-amerikanischen unterscheide. Also doch das „Alte Europa“?

 

Ich denke, dass die Gründe für diese merkwürdige Überalterung der deutschen Meetings etwas mit „Alt-Europa“ zu tun haben, ich glaube aber sicher sagen zu können, das diese außerhalb der AA liegen. Ich bin also fest davon überzeugt, dass es nicht am Programm und an den Traditionen der Anonymen Alkoholiker liegt und auch in keiner Weise an den vermeintlich „verknöcherten“ älteren AA-Mitgliedern. Denn dass die deutschen AA keineswegs veraltet sind, dass sie vielmehr vital und dynamisch sind, davon kann sich hier und heute jeder auf diesem Kongress überzeugen.

 

Woran liegt es dann aber, wenn in Deutschland der jüngere Nachwuchs so vergleichsweise schwach ist? Was in diesem Bereich Amerika einerseits und Europa und speziell Deutschland andererseits am meisten unterscheidet, das ist zweifellos der gute alte europäische Sozialismus, und hier wieder insbesondere der deutsche Sozialstaat. Ich glaube tatsächlich, dass dieser der Hauptfaktor dafür ist, dass zur Zeit so relativ wenig Jüngere zu AA und auch zu anderen Alkoholiker-Selbsthilfegruppen, wie Guttemplern und Blaukreuz, finden.

 

Ich bin nun der letzte, der hier diese große innenpolitische Errungenschaft, unseren guten alten deutschen Sozialstaat, in Bausch und Bogen kritisieren wollte. Neben dem äußeren Frieden, der uns Deutschen in den letzten 60 Jahren geschenkt wurde, hat der Sozialstaat uns allen mit seinen vielen segensreichen Einrichtungen nach außen ein gutes Ansehen und nach innen ein gutes und sicheres Leben beschert, in welchem man das Gefühl haben durfte, dass die für das Zusammenleben der Menschen unverzichtbare Solidarität und Gerechtigkeit in hinreichender Weise geregelt wurde, und dass dadurch ungeheure Freiräume für viele von uns entstanden sind. Zweifellos ist dieser Sozialstaat momentan in eine tiefe ökonomische Krise geraten, und es ist sicherlich die Hoffnung der meisten von uns, dass er von unseren Politikern irgendwie ohne größere Substanzverluste durch diese Krise gerettet werden möge, damit wir hier keine US-amerikanischen Verhältnisse bekommen mit Slums, überfüllten Gefängnissen und dem teuersten Gesundheitssystem der Welt, das gleichwohl dort drüben nur für eine Minderzahl der Menschen zur Verfügung steht.

 

Ich kritisiere also keineswegs unseren Sozialstaat, schließlich ermöglicht er mir als Arzt, viele Patientinnen und Patienten zu behandeln, die sich das privat niemals leisten könnten. Und doch glaube ich, dass derselbe Sozialstaat die Hauptursache dafür ist, dass die AA hierzulande scheinbar überaltern.

 

Denn das schätzenswerte Anliegen unseres Sozialstaates mit seinem eng geknüpften Auffangnetz und gesetzlich definierten Versorgungsansprüchen ist es ja, eine möglichst große Zahl seiner Bürger vor Situationen zu bewahren, in welchen sie Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ausgeliefert sind. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sind aber die eigentlichen Eintrittskarten in die Gemeinschaft der AA, die sich ja wahrscheinlich zu Recht als den Club betrachten, der weltweit die teuerste Aufnahmegebühr einfordert, nämlich in der Form von schlimmster Hoffnungslosigkeit. Fast alle AA-Mitglieder berichten in den Meetings, dass sie sich erst dann zur regelmäßigen Teilnahme entschließen und zur AA-Zugehörigkeit bekennen konnten, nachdem sie ganz unten bei der schlimmsten denkbaren Verzweiflung angekommen waren, nachdem sie also ihre „Kapitulation“, das Eingeständnis der Total-Niederlage, erfahren mussten

 

Mithin ist es nicht irgendwelche vermeintliche „Verknöcherung“ der deutschen AA-Meetings, sondern es ist der deutsche Sozialstaat, indem er in guter Absicht und mit großem Aufwand bei vielen seiner alkoholkranken Bürger den Tiefpunkt der Hoffnungslosigkeit verhindert, und es dadurch unterbindet, dass diese frühzeitiger zu den AA finden.

 

Diese meine These passt gut – finde ich - mit der Geschichte der letzten drei Jahrzehnte sowohl der AA als auch des Sozialstaates zusammen. In den Siebzigern hatte es noch kein derartig aufwendiges Sicherungssystem für die Süchtigen in Westdeutschland gegeben, entsprechend gab es hier zur selben Zeit ein stürmisches Wachstum von AA-Meetings. Seit den Achtzigern wurde über den Westen und seit den Neunzigern auch über den Osten ein immer engmaschiger werdendes Auffangnetz von Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Suchthilfe- und Suchttherapie und vielfältigen anderen Hilfseinrichtungen mit den verschiedensten öffentlichen, privaten und kirchlichen Trägern gespannt, das durch die Jahre immer besser koordiniert und methodisch perfektioniert wurde. Und entsprechend stagniert seit der gleichen Zeit allmählich zunehmend der jüngere Zulauf zu den AA.

 

In all diesen staatlichen, halbstaatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen der allgemeinen Sozialhilfe, der Suchthilfe und der Suchttherapie wird mittlerweile eine so hochwertige Arbeit geleistet, dass ein junger Alkoholiker es - schlicht gesagt - nicht nötig hat, zu den AA zu finden, denn dort kommen nur – wie jeder betroffene AA weiß - die hoffnungslosen Fälle hin.

 

Und das ist entsprechend offensichtlich der entscheidende Unterschied zur Situation in den Vereinigten Staaten. Dort kennt man kaum etwas, was unserem sozialen Auffangnetz vergleichbar wäre. Dort droht dem jungen Alkoholiker viel früher das soziale Aus und das Leben auf der Straße und der nahe Tod – mithin finden dort die Alkoholiker zwangsläufig in viel früherem Alter zu den Meetings, und damit zur Hilfe durch Selbsthilfe.

 

Ich möchte hier noch einmal betonen: Ich kritisiere den deutschen Sozialstaat nicht für seine unbeabsichtigte Nebenwirkung, dass hierzulande ein Alkoholiker offenbar viel später zu den AA findet. Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass dieser Staat in seinem sozialen Engagement eine große Zahl hochqualifizierter Arbeitsplätze für Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Krankenschwestern und -pfleger geschaffen hat, die sich mit hohem humanistischen Selbstanspruch für die Süchtigen wie für alle anderen Kranken engagieren, die immer effektivere Methoden anwenden, und die dabei unbestreitbare Erfolge erzielen. Schließlich bin auch ich selbst ja ein Teil dieses Helfersystems.

 

Ein großer Teil der jungen Alkoholiker wird darüber hinaus auch noch sorgfältig und aufwendig beforscht, sie bekommen also eine Menge Zuwendung und jahrelange Aufmerksamkeit.

 

Es gibt jedoch – zumal in AA-Kreisen – Stimmen, die diese Zustände in unserem Lande recht scharf kritisieren. Es geht ihnen um die AA-Philosophie von der Kapitulation, also um die Erkenntnis, dass eine Umkehr oder Einkehr erst dann möglich ist, wenn der harte Aufschlag ganz unten, das hitting bottom, der persönliche Tiefpunkt, bei dem einzelnen stattgefunden hat. Nach dem hier sicher allseits bekannten Motto von Walther Lechler: „Wen Gott liebt, den lässt er Alkoholiker werden.“ Will sagen: Erst eine brutale lebensbedrohliche Krise, in welche die meisten Alkoholiker schließlich hineinschlittern, führt sie der spirituellen Gnade von Umkehr, Genesung und „Nachreifung“ zu, wie sie es nennen, so dass einige von ihnen nach Jahren der Abstinenz sogar dankbar dafür sind, dass sie damals diese Krise durchmachen mussten.

 

Der wohlmeinende deutsche Sozialstaat dagegen verhindert also über lange Jahre mit finanziellen Stützen, Rund-um-Gesundheitsversorgung, mit gründlicher Beratung und hochwertiger Therapie und vielen anderen teuren Hilfsprogrammen, dass ein junger Alkoholiker an seinen spirituellen Tiefpunkt kommt und damit zu den AA findet. Manche finden das – wie gesagt – nicht wünschenswert, sie sprechen hier sogar von „Krisenklau“ in dem Sinne, dass dem Betroffenen die Selbstheilungskräfte unterdrückt werden, indem ihnen ihre zwar riskante aber letztlich allein zur Heilung führende Krise vorenthalten wird.

 

Ich finde diesen Standpunkt zwar völlig nachvollziehbar, aber zum einen hierzulande politisch nicht durchsetzbar. Zum anderen wäre es ohnehin problematisch, wenn man Alkoholikern absichtlich konkret eingerichtete Hilfen verweigern wollte und sie damit Risiken aussetzen wollte in der Annahme, man könnte sie dann früher ihrem Tiefpunkt und damit den AA zutreiben.

 

Andererseits könnte man mit gleicher Berechtigung argumentieren, dass man dem jungen Alkoholiker andere gleichermaßen schwerwiegende Risiken zumutet, wenn man ihn jahrelang mit großem finanziellen Aufwand und vielfältigen Hilfen immer wieder entlastet, und auf diese Weise einen nicht minder gefährlichen Beitrag zu der Eskalation leistet, die der Krankheit innewohnt. Je mehr die Solidargemeinschaft schon für ihn getan hat, desto mehr wachsen seine Schuldgefühle, desto mehr wird sein Hang zur Selbstzerstörung gefördert. Statt dass ihm mit Festigkeit und Mut frühzeitig Einhalt geboten wird, fördert man die Gefahren und verlängert das Elend.

 

Dieses Dilemma scheint mir in jedem Einzelfall ethisch unentscheidbar. Wegen der unkalkulierbaren Risiken haben wir einerseits ebenso wenig das Recht, einen Menschen mit Absicht in seine Kapitulation treiben zu wollen, wie wir andererseits auf der sicheren Seite des eindeutig Guten und der Risikovermeidung stehen, wenn wir durch endloses Helfen und Unterstützen die Suchthaltung eines Alkoholikers ungewollt fördern und jahrelang verfestigen.

 

Ich glaube also, dass die Tatsache, dass die AA zur Zeit so relativ wenig jüngeren Zulauf haben, in unserem wohlmeinenden Sozialstaat begründet ist, und dass kein AA sich länger selbst anklagend grämen müsste, es gehe in den Meetings zu verknöchert zu. Nach ihren zwölf Traditionen brauchen die AA sowieso nicht um die jungen Alkoholiker gegen den Sozialstaat zu konkurrieren. Es ist ja auch durchaus nicht so, dass die AA überhaupt keinen Nachwuchs mehr haben. Es bleibt ja offenbar noch eine hinreichend große Zahl von inzwischen nicht mehr ganz so jungen Betroffenen, um die sich der Sozialstaat mit all seinen vielfältigen Einrichtungen in den ersten Jahrzehnten intensiv und immer wieder aufs Neue gekümmert hatte, von denen sich aber schließlich einige als therapieresistent erwiesen haben. Und die sind dann der richtige Nachwuchs für die deutschen AA - nicht mehr so jung, aber dafür richtig harte hoffnungslose Fälle und dadurch berufen für diese einzigartige wunderbare Gemeinschaft.

 

Auch wenn also die deutschen AA in ihrer eigenen Gesellschaft zur Zeit nicht den gleichen Stellenwert genießen wie die amerikanischen AA in der ihren (siehe Hollywood), und auch wenn die deutschen AA einen höheren Altersdurchschnitt haben als die amerikanischen, so gibt es meiner Meinung keinen wirklichen Grund etwas anderes zu wünschen. Natürlich wäre es an sich wünschenswert, wenn auch hierzulande viele Alkoholiker wie in den Vereinigten Staaten schon in jüngeren Jahren zu AA finden würden. Andererseits wird sicherlich keiner deshalb unseren Sozialstaat wegwünschen wollen.

 

Ebenso bleibt ja auch zweifellos die Frage unentscheidbar, was denn für einen einzelnen Alkoholiker besser oder wünschenswerter wäre: Eine in seinem Leben früher gelegene katastrophale Lebenssituation, die ihn dann früher der Kapitulation und damit den AA zuführt (so, wie es offenbar in den USA häufiger geschieht), oder ein aufwendiges sozialstaatliches Hinauszögern dieses Katastrophenpunktes in eine spätere Lebensphase (wie es offenbar in Deutschland zur Zeit vorwiegend geschieht). Zwar bewerten viele AA ihre eigene frühere Katastrophe mit anschließender Kapitulation als einen paradoxen persönlichen Glücksfall nach dem Motto: „Ich danke meiner Höheren Macht dafür, dass sie mir damals diese kompromisslose Krise gesandt hat, damit ich dadurch eine persönliche Nachreifung erfahren durfte.“

 

Jedoch scheint es mir – wie schon gesagt - ethisch unzulässig, diese Logik umgekehrt auf die noch nicht erlösten Alkoholiker anzuwenden, und sie absichtlich durch Hilfeverweigerung in ihre Krise hineintreiben zu wollen. Etwa nach einem solchen Schema: „Wenn seine Krise ihn hoffentlich nicht umbringt, wird sie ihm anschließend gut tun.“ Hilfeverweigerung dürfen wir Menschen nicht planen, die Herbeiführung und der Verlauf einer Krise darf nur – finde ich - von einer Höheren Macht gesteuert werden. Hier bietet sich nun aus dem Weisheits-Thesaurus der AA der so genannte Gelassenheitsspruch an, im Sinne von „Gott gebe mir die Gelassenheit, das Durchschnittsalter in meinem Meeting hinzunehmen …..“

 

AA ist also kein verknöcherter Seniorenclub. AA ist also trotz aller Besonderheiten in deutschen Landen hochwirksam für alle Jahrgänge – natürlich auch für die Jungen. AA ist vor allem das Richtige – vielleicht sogar das einzig verbleibende Richtige – für alle Hoffnungslosen und Verzweifelten. Seine Philosophie ist nicht nur wertvoll für alle Trinkerinnen und Trinker, sondern auch für andere – wie mich.

 

© Dr. Friedrich Ingwersen

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