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Zwei Reden von Medizinern über AA
 

Worüber Mediziner bei AA staunen

Prof. Dr. Lothar Schmidt (Facharzt für Suchtkrankheiten)

Alkoholismus - eine Krankheit?

Dr. med. Walther H. Lechler (Psychiater und Psychotherapeut)

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​Im Folgenden ein Vortrag von Prof. Dr. Lothar Schmidt (1921-2020), gehalten am 26. August 1990 in Illmenau (Thüringen) aus Anlass des ersten öffentlichen Informationsmeetings in der Noch-DDR:

Worüber Mediziner bei AA staunen

Also, ich heiße Lothar und bin ein Freund der AA. Ich muss Euch erzählen, wie es eigentlich dazu gekommen ist: Also, ich habe einen ganz herrlichen Beruf.

Einen herrlichen Beruf insofern, dass ich in meinem kurzen Leben bisher etwa mit 90.000 alkoholkranken Freunden zusammenkam. Und das ist ein Kapital, das natürlich auch auf mein Leben entsprechend zurückgeschlagen hat. Mit AA bin ich erst seit 27 Jahren "verheiratet". Das ist schade, denn es ist gewiss eine noch zu kurze Zeit, gemessen an der Größe des Alkoholproblems. Aber diese Zeit hat mich geformt. Und wie ist es dazu gekommen? Ich hatte zwei Kollegen, die einen sagenhaften Abstieg erlitten: Einer, ein Mann, war Oberarzt in einer Universitätsklinik in Berlin, mit den besten beruflichen Aussichten. Dieser Alkoholiker verlor seine Frau durch sein Trinken, verlor seinen Beruf. Er hätte heute gewiss Professor sein können. Er verlor seine Gesundheit, holte sich eine Tuberkulose und verschwand aus meinem Blickfeld. Desgleichen eine Frau, eine Kollegin, die eine ähnliche Entwicklung machte, auch wenn sie nicht in einer Universitätsklinik war; eine Frau, die alles verlor und dann auch aus meinem Dunstkreis ausschied. Und ich habe mit Bestimmtheit gedacht, die beiden seien tot.

Eines Tages traf ich den Kollegen wieder. Er war ganz anders, nett angezogen und hatte eine ganz andere Art an sich. Und ich kann Euch sagen, dass meine Frage wirklich dastand: "Mensch - Du lebst?" Die beiden Kollegen waren als Psychopathen hingestellt worden, also als Menschen, die man kaum noch behandeln kann! Ich fragte natürlich: "Sag' mal, wie ist denn das möglich gewesen?" Er brachte mich auch mit der Kollegin in Kontakt, die ebenfalls diesen Abstieg erlebt hatte. Und dann sagte mir dieser Kollege, als ich ihn nun fragte: "Welchem berühmten Psychotherapeuten oder welchem berühmten Arzt bist Du denn in die Finger gekommen, dass Du diese Entwicklung durchgemacht hast?" Da sagt der mir schlicht und einfach: "Ich bin zu AA gekommen. AA heißt "Anonyme Alkoholiker". Und wenn Du willst, kannst Du auch Kontakt aufnehmen." Nun, ich hatte mich schon ein paar Jahre mit Alkoholismus beschäftigt und so dachte ich: "Na, Mensch - kannst ja mal in die Gruppe gehen. Vielleicht können die was von dir erfahren? Nicht wahr!" Auf der anderen Seite hatte ich auch ein bisschen Angst: "Hoffentlich tun die mir nichts. Alles Alkoholiker! Man kann ja nie wissen......Soll ich die Brieftasche einstecken oder nicht?" Also, ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und bin dahin gegangen.

Aber diesen Abend werde ich nie vergessen. Ich dachte, ich könnte denen was rüberbringen. Jedoch ich war der Beschenkte. Da war mein Kollege, der einfach frei von der Leber weg sprach: "Ich heiße Bruno. Das und das ist passiert. So und so ist es. Da habe ich noch große Schwierigkeiten, dort habe ich versagt, aber da und da habe ich auch gewonnen." Sowas hätte ich doch nie gesagt - als Lothar Schmidt! Und ich bin mit ziemlich 'eingezogenem Schwänzchen' von diesem AA-Meeting weggegangen, das könnt Ihr Euch vorstellen. Denn dort fand ich Menschen, die eine Reife hatten, die ich nicht hatte. Das hat mich interessiert. Und von diesem Tag an - das war 1963 - habe ich engen Kontakt mit AA behalten dürfen. Und das hat mein Leben in vielen Dingen verändert. Ich möchte Euch eines sagen: Wer mit AA zusammenkommt und sein Leben nicht verändert, der hat doch nie eine Ahnung von AA gehabt. Denn AA verändert jeden! Ich muss Euch sagen, dass ich mich an der Universität viel mit Fragen des Alkoholismus beschäftigt hatte. Aber ich hatte nichts begriffen. Ich hatte gehört, was ein Korsakow ist, was Folgeerscheinungen sind usw. Aber von Alkoholkrankheit hatte ich nichts gehört. Das war ja auch nicht möglich, weil die Wissenschaft auf diesem Gebiet noch ganz jung ist. Gerade in den letzten Jahren haben wir Dinge entdecken müssen, die die AA aus ihrer Erfahrung, schon lange gesagt hat. Mehr und mehr habe ich dann von AA-Freunden über Alkoholismus lernen dürfen. Als ich dann schließlich auch Studenten ausbilden durfte und die so vor mir saßen, habe ich ihnen sehr oft gesagt: "Lasst die ganzen Lehrbücher erst einmal weg. Setzt Euch zu Füßen der lebendigen Lehrbücher! Wenn ihr Euch dann ein entsprechendes Bild gemacht habt, dann könnt Ihr sie wieder mal vornehmen. Dann wisst ihr auch, wieviel Unsinn in manchen Lehrbüchern über Alkoholismus steht." Denn ich glaube - und das ist ein altes Wort von mir , ich glaube; "Es ist etwas anderes, ob ich am Schreibtisch sitze und über Alkoholismus nachdenke, oder ob ich das erfahren habe. Es ist ganz etwas anderes."

Nun, hier sitzen viele, die das erfahren haben. Für mich, Freunde, ist das heute ein ganz besonderer Tag. Ich weiß, dass die DDR unter manchem zu leiden hatte. Ich weiß nicht, warum es bevorzugte Menschen gab und nicht bevorzugte Menschen. Aber ich wünsche Euch allen hier, dass wir in Kürze gemeinsam manches überwinden, das Euch allen heute Angst macht. Es ist für mich etwas ganz Bewegendes, heute einmal hier in Thüringen, ein AA-Meeting mitmachen zu dürfen. Ich möchte allen Thüringern sagen: Mit AA bekommt ein Thüringen ein ganz hervorragendes Geschenk. Vielleicht begreifen das heute noch nicht viele, aber AA kann das ganze Denken und Wissen über die Alkoholkrankheit noch mal neu überdenken lassen. Wir haben ja so vieles von Lehrbüchern her über Alkoholismus gehört. Und vieles ist richtig. Aber vieles, glaube ich, geht eben nur von der theoretischen Überlegung aus. Zum Beispiel war es ja so, dass man zunächst einmal einen Alkoholiker als etwas Willensschwaches und Charakterschwaches, als etwas Asoziales sah, dass man Alkoholismus etwa mit Sünde und mit Laster in Verbindung setzte. Vielleicht haben wir heute Freunde hier, die zum ersten Mal ein solches Meeting besuchen. Bestimmt sind Angehörige hier. Ich meine, wir sollten heute ganz praktisch etwas zum Mitnehmen bekommen. Deshalb möchte ich Sie fragen: Wenn Sie jetzt ein Bild über einen Alkoholiker zeichnen würden, wie würden Sie das zeichnen? Was ist für Sie ein Alkoholiker? Oder wir könnten jetzt mal hier nach Illmenau in die Stadt reingehen, uns vielleicht zehn Illmenauer holen, sie hier in die Mitte setzen und die ganz praktisch fragen: Sagt mal, was ist denn für Euch ein Alkoholiker?

Was meint Ihr, wieviel Antworten Ihr da kriegt! Na, zehn reichen doch gar nicht. Der eine sagt, sie sind willensschwach, der andere charakterschwach, der nächste asozial, jemand meint, die haben einen Tick, ein anderer sagt, weil er Pfarrer ist: "Das sind Sünder", und der nächste sagt: "Das sind Kranke, nicht wahr!?", weil es vielleicht ein Mediziner ist. Ja, was ist denn eigentlich ein Alkoholiker? Die Kirchen haben sich bald aufgemacht, diesen Menschen irgendwie eine Hilfe anzubieten, denn sie sagten: "Das sind Sünder. Die sind vom schmalen Weg abgewichen und die müssen wir wieder auf den schmalen Weg bringen; das sind lasterhafte, sündhafte Menschen die der Ewigkeit verloren gehen. Also müssen wir dort Hilfe anbieten." Die Mediziner hatten zu der Zeit noch lang nichts im Kopf damit. Ich weiß, dass der Vater der Psychiatrie aus der Schweiz, Professor Morell, so im Jahre 1880 sich immer wieder Gedanken gemacht hat: "Das können doch nicht nur willensschwache Menschen sein. Denn auf anderen Gebieten sind sie durchaus willensstark, wenn es zum Beispiel darum geht, eine Flasche zu besorgen. Das hat man gesehen. Also, muss das doch was anderes sein." Und dann kamen die Psychotherapeuten. Da hat der Sigmund Freud gesagt: "Ja, die haben Liebesentzug gehabt." Ein anderer sagte: "Die sind verkehrt rum auf den Nachttopf gesetzt worden." - Ich kenne ja nun inzwischen so viele Leute, die richtig auf dem Nachttopf saßen und trotzdem gesoffen haben. - Der eine sagte: "Das Loch im Schnuller war zu groß, als er Baby war und nun hat er immer einen Drang, sich mit dem Mund zu befriedigen, weil er da nicht genügend befriedigt worden ist." - Manche von den Alkoholikern haben gar keinen Schnuller gehabt, die bekamen die Brust, insofern etwas Gutes! - Also das alles waren so Ideen...... Noch um die Jahrhundertwende haben in Deutschland die verantwortlichen Leute gesagt - ich denke da an Professor Kraepelin, der hatte einen Lehrstuhl in München und was eigentlich so etwas wie unser Papst auf dem Gebiet der Psychiatrie - der hat gesagt: "Das sind zu willensschwache, zu charakterschwache Menschen, um mäßig zu trinken." Und damit haben sie es immer erklärt.

Dann kam eine ganz neue Bewegung. Ich glaube, wer von AA hier ist, der weiß, wie die Anfänge waren. Es war etwas ganz Eigenartiges: Es fing an mit einem Sohn von reichen Eltern, der immer wieder soff. Die Eltern sagten: "Wir müssen doch irgend etwas für unseren Jungen tun!" Und so schickten sie ihn dann aus den USA nach Europa zu C, G. Jung nach Zürich. Das war damals der berühmteste Arzt. Und dieser C. G. Jung nahm ihn ein Jahr in die Psychotherapie. Das muss ein sehr ehrlicher Mann gewesen sein, der C. G. Jung. Der sagte nach einem Jahr: "Ich kann Dir als Arzt nicht helfen, ja, wir Ärzte können hier überhaupt nicht helfen." - Und der junge Mann war total verzweifelt. "Wo krieg' ich dann noch Hilfe?" C. G. Jung sagte: "Ich weiß es nicht. Aber ich weiß eines, nämlich dass manche Menschen durch ein spirituelles Erlebnis von ihrer Gestörtheit frei geworden sind." Roland: "Wo finde ich das?" C. G. Jung: "Ich weiß es nicht." - Und so zog er wieder zurück in die USA. Und er fand dieses Erlebnis. Er fand eine Gruppe von Menschen , die ganz offen über sich sprachen, ganz offen alles auf den Tisch legten und es an eine Höhere Macht übergaben. Roland hatte ja alles in der Psychotherapie versucht und erlebt. Das war ja schiefgegangen. So entschloss er sich, auf diesen Weg zu gehen: Und Roland trank nicht!! Das war für ihn ein solches Erlebnis - das kann aber nur einer verstehen, der das schon durchgemacht hat. Hier sind sicher einige unter uns, die abgeschrieben waren, die erledigt waren, für die es kein Leben mehr gab ... und wenn man dann wieder leben darf, wenn man da herauskommen kann, ich glaube, dann fühlt man anders als ein Mensch, der immer so einigermaßen glatt durchs Leben laufen konnte.

Dieser Roland hatte einen Freund, den Ebby, einen hoffnungslosen Säufer. Er erzählte ihm sein (spirituelles) Erlebnis, denn der Ebby war verzweifelt. Und er tat genau das, was Roland getan hatte: Er ging in diese Gruppe, legte ehrlich alles auf den Tisch, gab seine Machtlosigkeit zu, ergab sich einer Höheren Macht und ....... - trank nicht mehr!

Dieser Ebby hatte einen Freund in New York - das war der Bill - und er sah die Verpflichtung, ihm seinen Weg anzubieten. Ich glaube, ein Mensch, der gewissermaßen vom Tod aufgestanden ist und so einen Weg erlebt hat, der kann ja nicht still sein, der kann ja nicht schweigen, der muss es ja weitergeben. Und er gab es seinem Freund Bill weiter. Bill hatte überhaupt nichts am Hut mit der Höheren Macht. Aber dieser Ebby sagte: "Stelle Dir zunächst einmal irgend etwas vor, was Du Dir vorstellen kannst. Probiere den Weg. Und weil der Bill verzweifelt war, probierte er den Weg - und er trank nicht mehr! Ihr wißt alle, wenn ihr die AA-Literatur studiert habt, wie Bill mit Dr. Bob zusammenkam, und wie das für die Beiden ein unwahrscheinliches Erlebnis war. Offen und ehrlich miteinander über sich zu sprechen.

Wir tragen viele Masken. Ich weiß nicht, ob man in der Bundesrepublik mehr Masken getragen hat als in der DDR. Ihr brauchtet in der DDR für eine ganz bestimmte Richtung manche Maske. Aber glaubt ja nicht, dass woanders nicht auch Masken nötig sind. Und wir tragen auch hier noch, so meine ich - entschuldigt, wenn ich das sage - immer noch Masken. Und überall da, wo wir Masken tragen, da isolieren wir uns. Diese Freunde damals merkten, dass das tödlich für sie sein kann. So legten so voreinander ihre Schwierigkeiten offen und sprachen darüber. Vielleicht ist Euch auch diese Geschichte bekannt, die Bill in der Klinik erlebte, als er dann nach soundsoviel Klinikaufenthalten zum wiederholten Male dorthin kam. Was da geredet wurde, ist uns ja erhalten. Der muss doch besoffen in die Klinik gekommen sein, also mit Flaschen schwenken und so weiter. Und der Arzt, der ihn kannte, sagte: "Da bist du ja schon wieder, Bill!" Und der Bill sagte: "Aus mir wird wohl nichts mehr." Worauf der Doktor sagte: "Ich fürchte, du hast recht." Worauf der Bill sagte: "Nach so einer scheußlichen Nachricht brauche ich einen Schnaps." Das war also ganz, ganz realistisch. Und das muss ein phantastischer Doktor gewesen sein, der den Bill losgelassen hat, indem er sagte: "Phh, das ist dein Schnaps und nicht meiner! Aber Du kannst mir noch einen Gefallen tun. Wir haben heute einen jungen Mann aufgenommen, der tut mir leid." (Bill stand kurz vor dem vierzigsten Lebensjahr.) "Dieser junge Mann, das erste Mal in unserer Klinik - ich fürchte nicht das letzte Mal. Bill, geh mal über den Korridor und zeig dich diesem jungen Mann. Du siehst nämlich heute so scheußlich aus. Wenn der sich sieht, vielleicht hilft es ihm." - Auch eine Therapie. Der Bill ist über den Korridor gegangen, und - das Wichtige kommt jetzt - er hat sich an das Bett dieses jungen Mannes gesetzt und zum ersten Mal offen und ehrlich über sich gesprochen, ohne jede Maske.

Wieso konnte er das? Weil da kein Weißkittel, kein Doktor, kein was weiß ich für ein Oberpsychologe, Pädagoge oder Soziologe und wie sie alle heißen, dabei war. Da saß ein Alkoholiker und er brauchte keine Angst zu haben, abgewertet zu werden. Sie sprachen den ganzen Tag und die Worte gingen immer hin und her: "Du auch?" - "Du auch?" - "Du hast auch die gleichen Ängste gehabt?" - "Du hast auch die gleichen Erlebnisse gehabt?" - "Du hast auch die gleichen Tricks draufgehabt?" Und als es Abend war, da hatten die zwei tolle Entdeckungen gemacht, nämlich die: Wenn man offen und ehrlich miteinander sprechen kann, dann werden Energien frei. Dabei hatten sie auch nicht das Bedürfnis zu trinken, das war ja das Entscheidende. Dann - als Bill aus der Klinik kam und sagte: "Jetzt suche ich mir in erster Linie einen Nichtprofessionellen." Und das wird in der DDR auch noch Schwierigkeiten geben, weil wir, zum Beispiel, in der Bundesrepublik immer mehr die Arbeit auf die Professionalität gestellt haben. Eine Bundesversicherungsanstalt, eine Landesversicherungsanstalt greift natürlich in erster Linie auf die Professionalität zurück.

Aber, ich frage wirklich: Wer hat mehr trockengelegt, die Professionellen oder die Selbsthilfen? Und da, glaube ich, ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen. Das ist natürlich ein ganz anderer Weg, der uns vielleicht verwirrt. AA hat uns Professionelle sehr, sehr schnell verwirrt. Nun war es ja so, als Bill und Bob trocken wurden, da haben sich um die beiden weitere hoffnungslose, von Fachleuten aufgegebene Menschen geschart. Es geschahen immer wieder diese Wunder, dass Leute, von denen jetzt der Professionelle sagte, z. B.: "Ich kann dich nicht behandeln." Oder, wie C. G. Jung sagte: "Ich bin machtlos gegen deine Krankheit." dass sie trocken wurden und nicht nur trocken, das ist doch zu wenig, sondern ein wertvolles Leben wieder aufbauten. Das das aber immer wieder geschah, hat nun der eine oder andere von den Professionellen gefragt: "Sag mal, was passiert da? Sehen wir den Alkoholismus richtig?"

Dadurch kam es ja überhaupt, dass die Alkoholismus-Forschung in Gang gesetzt wurde. Jellinek - der Euch vielleicht vom sogenannten "Jellinek-Fragebogen" her ein Begriff ist - hat 2000 Anonyme Alkoholiker jahrelang beobachtet. Dann sagte er 1946 zum ersten Mal: "Das ist eine Krankheit." Und ich glaube, AA´s sollten wissen, dass sie einen ganz gewaltigen Anstoß für die gesamte Alkoholismus-Forschung gegeben haben. Nun haben Alkoholiker ehrlich ihre Erfahrungen ausgetauscht und dann aus ihren Erfahrungen Erkenntnisse in die Welt gesetzt, die uns Wissenschaftler - Ihr hörtet, ich bin Professor - also uns Wissenschaftler doch aufgeregt haben. Wieso das? Sie haben gesagt: "Alkoholismus ist keine selbst verschuldete Krankheit."

Das wissen viele AA-Freunde noch nicht. Ich habe manche zu mir genommen und gefragt: "Hast Du Deine Krankheit selbst verschuldet?" - "Ja, ich hätte nicht soviel zu saufen brauchen." Nein!! Ihr habt euch gesagt: "Es ist keine Schande krank zu sein, aber eine Schande, nichts dagegen zu tun." Das sagt doch mit anderen Worten, dass ich mich nicht zu schämen brauche, dass ich in diese Krankheit gekommen bin. Also sagten sie: "Das ist keine selbst verschuldete Krankheit." Dann sagten sie noch was, das haben wir ihnen zunächst auch nicht abnehmen wollen: Ein Alkoholiker kann in seinem Leben in aller, aller, aller, aller - und nochmals aller! - Regel nicht mehr kontrolliert trinken. Es gibt zwei Möglichkeiten: Du bleibst ein nasser Alkoholiker und verkürzt dein Leben und verkürzt deine Lebensqualität oder verminderst deine Lebensqualität oder Du wirst ein trockener Alkoholiker - dazwischen gibt es nichts." Oh, das war schwer für uns anzunehmen. Also, Prost!

Dazwischen gibt es nichts! Wie oft haben wir Ärzte gesagt: "Na ja, nun mach mal eine Pause, lass die harten Sachen sein. Und dann fang mal wieder mit Bier an." Und wenn das dann der Betreffende machte, und dann seine Kontrollverluste bekam, dachten wir: "Siehste! Haben wir doch immer schon gesagt: Willensschwach, Charakterschwach!", und haben gar nicht gemerkt, dass unser Rat denjenigen in diese Not brachte - vielleicht sogar, dass er jemand das Leben kostete. Die Praktiker sagten: "Wir können nicht mehr." Dann haben sie noch was gesagt, was ganz schlimm war für uns, sie haben gesagt: "Die Frage nach den Ursachen ist für uns überhaupt nicht wichtig. Für uns ist wichtig, heute, jetzt das erste Glas stehen zu lassen und heute, jetzt Verantwortung für uns zu übernehmen." Oh! Das ist ja viel schwerer, als über Ursachen nachzudenken!

Ich kenne einen Freund aus Frankfurt, der hat drei Jahre Psychoanalyse durchgemacht und dann, am Schluss dieser drei Jahre, da hat er ungefähr die Vorstellung gehabt: "Jetzt weiß ich doch so in etwa, warum ich alkoholkrank geworden bin." Das war so eine große Freude, dass er sich volllaufen ließ. Das ist eben nicht das Entscheidende. Heute, - jetzt das Glas stehen zu lassen und heute, - jetzt Verantwortung für sich zu übernehmen. Das ist schwer für manchen, ganz schwer. Da braucht er Hilfen und: Da braucht er Euch. Nun haben wir doch immer wieder in der Medizin gesagt, wenn wir was vernünftig behandeln wollen, müssen wir die Ursachen wissen. Also war das ganz gegen unseren Strich. Vielleicht weiß es der eine oder andere. Ich habe vor einigen Jahren ein Buch verbrochen und darin habe ich in einem Kapitel die gängigsten Ursachen zusammengestellt. Ich muss Euch sagen, am Schluss des Kapitels war ich dümmer als zuvor. Da sagt einer: "Verkehrt auf den gesetzt", der nächste sagt: "Ein zu großes Loch im Schnuller", ein anderer sagt: "ein abnormes Enzymsystem in der Leber!" ... Und wenn Ihr warten wollt, bis die Ursachen wirklich geklärt sind, dann seid Ihr schon dreimal tot. Nein! Heute und jetzt das erste Glas stehen lassen und heute und jetzt Verantwortung übernehmen! Das war die Praxis.

Ja, und dann haben sie noch was gesagt, was jetzt für die Angehörigen ein komisches Wort ist. Sie haben gesagt: "Es ist nicht so, wie ihr immer meint, dass wir mehr Willen kriegen müssten. Nicht so. Willen einpusten, irgendwo, nein gerade das Gegenteil! Der Weg zum Gesundwerden ist die Kapitulation." Na, das war doch irre! Aber das war die Praxis. Dann haben sie gesagt: "Das ist eine Familienkrankheit." Und weiter: "Die Gruppe ist das entscheidende Mittel, ein ganz tolle Medizin, trocken zu bleiben." Alles für uns fremde Dinge! Oh, hätten wir doch mehr auf die Praktiker gehört, ich glaube wir hätten uns manchen Umweg ersparen können.

Heute wissen wir, es ist eine Krankheit. Heute wissen wir, es ist keine selbst verschuldete Krankheit. Heute wissen wir, der Alkoholkranke kann nicht mehr gepflegt trinken. Und wir wissen auch, dass die Kapitulation das Entscheidende ist, dass es eine Familienkrankheit ist und wir wissen um den Wert der Gruppe. Nun, es ist wirklich eine Krankheit Ich möchte Euch Freunden aus der DDR sagen: Ihr kommt ja in wenigen Tagen mit der Bundesrepublik zusammen. Und dann brauchen wir nicht mehr von DDR und Bundesrepublik zu sprechen. Das fand ich immer irgendwie schrecklich. Wir gehören zusammen! Und wenn meine Frau und ich dann so einen Trabbi irgendwo sahen... Wir waren zum Beispiel Himmelfahrt bei einer Tagung in Bozen und staunten, wieviel Trabbis da so über den Brenner fuhren. Wir hätten am liebsten jeden Trabbi umarmt. Es ist so schön, mit Euch zusammen zu sein. Wir gehören zusammen. Und da solltet Ihr wissen, dass in der Bundesrepublik 1968 unser Bundessozialgericht - das gilt dann glatt auch für Euch - entschieden hat: ,,Das ist eine Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung." Dann kam 1971 das Bundesarbeitsgericht, und sagte: ,,Ja, ja, Krankheit! Daran ist nicht zu wackeln. Aber selbstverschuldet!" Und sie begründeten das und sagten: ,,Jeder vernünftige Mensch muss doch wissen, wo er seine Grenzen zu setzen hat." Nun möchte ich Euch mal fragen, was ein vernünftiger Mensch ist, natürlich alle, die in diesem Raum sitzen, ist ja klar. Aber was ist nun wirklich ein ,,vernünftiger Mensch"? Dann kam 1980 das Bundesverwaltungsgericht und sagte: ,,Nach den heutigen Erkenntnissen: keine selbstverschuldete Krankheit." Und 1983 kam wieder das Bundesarbeitsgericht und sagte: ,,Wir können bei der Rechtsprechung von 1971 nicht mehr bleiben. Inzwischen haben wir einige Entdeckungen gemacht. In den letzten Jahren war das eine ganze Reihe." Sodass sie sagten: ,,In aller Regel keine selbstverschuldete Krankheit! Und der Arbeitgeber muss das Selbstverschulden nachweisen." Was er in der Regel nicht kann. Keine selbstverschuldete Krankheit! Und das Gericht begründet das - und das gilt nun auch für Euch: Zur Entstehung der Alkoholkrankheit sind viele Faktoren notwendig, von denen der Betroffene einige gar nicht übersehen kann. Wir wissen auch, dass Anlagen eine Rolle spielen. Sicher nicht, was damals Silkworth meinte, dass es eine Allergie sei. So etwas ist es nicht. Wir ahnen heute die Zusammenhänge und wir können heute, auch im Tierversuch, Kontrollverlust auslösen. Diese Tiere behalten die Kontrollverluste bis zu ihrem Ende. Also keine selbstverschuldete Krankheit. Ihr könnt also den Kopf hochnehmen, auch wenn der Hals schwarz ist.

Diese Krankheit haben Alkoholkranke Jellinek gegenüber so phantastisch geschildert, dass er damals die Gelegenheit hatte, dieses Krankheitsbild deutlich zu beschreiben. Wenn wir von einer Krankheit sprechen, dann verlangen wir Mediziner doch klare Krankheitssymptome, die dieses Krankheitsbild von anderen unterscheidet. Wenn ich von einer Lungenentzündung spreche, dann muss der Mensch doch Fieber haben und Husten. Da muss der doch eine Erhöhung der weißen Blutkörperchen haben und so weiter, und so weiter. Und der muss eine Verschattung auf der Lunge haben. Wenn er die nicht hat, dann hat er keine Lungenentzündung. Kann ich auch solche Krankheitszeichen von der Alkoholkrankheit verlangen? Ich meine, ja.

Es gibt, meine Freunde, gemeine Krankheiten, hundsgemeine Krankheiten! Und die Alkoholkrankheit gehört dazu. Eine gemeine Krankheit ist zum Beispiel folgendes: Ich denke daran, wie oft ich am Operationstisch stand. Dann haben wir den Bauch aufgemacht, den Bauch wieder zugemacht und dann den Angehörigen gesagt: ,,Wenn es möglich ist, macht noch eine schöne Reise. Was war? Da war ein sehr fleißiger Mensch. Er hatte keine Beschwerden, vielleicht ein bisschen Müdigkeit, ein bisschen Schlappheit. Nun, wer hat das nicht mal? Außerdem hat man's ja im Frühjahr, und wer es nicht im Frühjahr hat, der hat es im Herbst... was weiß ich? Da sagt man sich: ,,Naja, das ist verständlich." Tja, und eines Tages bekam er bisschen Druck im Bauch. Na, wer hat nicht mal einen Druck? Der sagt sich: ,,Ich bin ein fleißiger Mensch, da geh ich doch nicht gleich bei jedem Pieps zum Arzt." Und der Druck wurde stärker und eines Tages ging er zum Arzt. Da waren viele Monate vergangen und er spürte einen Tumor. Dann kam er in die Klinik und wir machten den Bauch auf. An allen Organen waren schon Tochtergeschwülste. Da gab es nur eines: wieder zumachen. Das ist eine gemeine Krankheit.

Und ich meine, dass auch die Alkoholkrankheit so eine gemeine Krankheit ist. Wir sollten uns mal alle fragen, hier in diesem Raum: "Wenn Ihr noch Alkohol trinkt, -- und die Fachleute, die getrunken haben, reichlich getrunken haben, die sollten sich zurückhalten -- warum trinkt Ihr Alkohol?" Ich kann mir vorstellen, wenn Sie aus rein geschmacklichen Gründen Alkohol trinken, aus gesellschaftlichen, aus Durstgründen, dann kann das harmlos sein. Aber wenn Sie merken, Sie trinken der Wirkung wegen, dann passen Sie auf! Ich habe immer wieder meine Freunde gefragt, und immer ähnliche Antworten erhalten. Eines Tages war es ganz klar. Ihr trankt den Alkohol, weil der Alkohol immer mehr, immer mehr, eine wichtige Medizin wurde, der Wirkung wegen! Und da lässt die Tragfähigkeit für seelische Belastungen nach. Ihr wurdet verletzbarer, empfindlicher. Und dann kamen eines Tages die berühmten Gedächtnislücken. Wenn ich alkoholkranke Freunde nach Gedächtnislücken frage, dann haben wir hier ein abendfüllendes Programm. Wo nicht überall, was nicht überall! Nicht wahr?! Diese Damen, die morgens im Bett aufwachten, bloß nicht in ihrem. Es gab oft einige Komplikationen, keinen Weg zu einem (Ehe)Mann zu kommen. Wie verzweifelt manche darüber waren. Und dann, da der Alkohol immer mehr eine Medizin wurde und dann immer mehr getrunken wurde, da ging ja das mit den Vorhaltungen der Angehörigen los. Das kennen alle Fachleute hier. Da sprach die Ehefrau darüber, da sprach umgekehrt der Mann darüber: ,,Du trinkst zuviel, nun lass das mal!" Da kam diese ganze 'Musik'...... Was war die Folge? Ihr fingt an, allein zu trinken, heimlich zu trinken. Und da haben wir das nächste große Kapitel. Da können wir uns den ganzen Abend drüber unterhalten, wo Ihr überall die Flaschen versteckt habt. Da seid Ihr wirklich kreativ im wahrsten Sinne des Wortes, Und ich lerne nie aus.

Letztens, das war das Neueste, was ich lernte: Der Mann kam nach Hause und die Frau war voll abgefüllt bis zur Oberkante der Unterlippe. Und er sagte: ,,Du bist doch besoffen", sagt sie: ,,Ich bin besoffen? Nein, in keiner Weise." - ,,Du stinkst doch." - ,,Der Arzt hat mir gesagt, für meinen Kreislauf. Nicht wahr?! Einen guten Schnaps!" - ,,Na, Du stinkst doch. Das ist doch nicht ein Schnaps!" - ,,Der Schnaps ist heute auch nicht mehr so gut wie früher!".... Immer Ausreden! Sie war betrunken. Und der Mann hat die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, nichts, nichts, absolut nichts. Und sie stand dann da: ,,He, he, ich habe ja immer gesagt, du traust mir nicht." Und das war fast jeden Abend so. Wo hatte sie die Flaschen? Mir hat sie es dann ein paar Tage später verraten. Sie hatten Betten mit sehr breiten, runden Pfosten, die hat sie aushöhlen lassen und darin versteckte sie ihre Flaschen. Der Mann wäre da nie drauf gekommen.

Aber wie man sich dabei fühlt, das wisst Ihr auch! Ich habe meine Freunde immer wieder gefragt: ,,Wie habt Ihr Euch denn dabei gefühlt?" Dann kommt ein hochdeutsches Wort, das fängt mit be...... an. Das habt Ihr gesagt. Nun, die Krankheit geht weiter! Und wenn dann eines Tages das kommt, was wir ,Kontrollverlust' nennen? Das haben wir früher gar nicht begriffen, was das heißt. Kontrollverlust heißt doch, wenn ich mit dem Trinken beginne, dass ich dann die Fähigkeit verlieren kann, die weitere Trinkmenge zu steuern. Ich will ja gar nicht soviel trinken. Ich fing an, und dann geht der Zug ab. Wenn die Kontrollverluste doch so kämen, als wenn ich auf den Schalter drücke und dann kommt Licht! Dann wäre das ja gut. Aber die schleichen sich doch ein! Ich kenne keinen Alkoholiker, der nach dem ersten Kontrollverlust gejubelt und gesagt hat: ,,Ich bin Alkoholiker, ich brauche Hilfe." Nein, da kommen noch Wochen, unter Umständen Jahre, da kannst Du ganz kontrolliert trinken, und sagst: ,,Ich bin doch kein Alkoholiker! Naja, das war mal ein bisschen zuviel. Warum sollte es nicht mal zuviel sein?" Und dann kommen immer wieder und immer häufiger die Kontrollverluste. Und Ihr wisst alle, was das bedeutet. Ich weiß nicht, ob der eine oder andere sich das klar macht? Aber mir haben einige gesagt: ,,Was meinst Du? Ich bin nach Hause gekommen, abgefüllt bis zur Oberkante der Unterlippe, hab die Fußmatte vor der Tür mit dem Bett hinter der Tür verwechselt, hab mich ausgezogen, quer über die Fußmatte gelegt und dann kamen die Nachbarn vorbei" Wollt ihr am andern Morgen dann noch die Nachbarn sehen? Möcht' ich mal sehen. Schamgefühle, Schuldgefühle, Versagergefühle! Und was habt Ihr damit gemacht? Ihr habt eine dicke Mauer darum gelegt und Angst gehabt.: ,,Wenn die wüssten, wie ich wirklich denke...!" Obwohl das Eure Rettung gewesen wäre. Ich kann mir vorstellen, dass ich vor einem Moralapostel meine Not nicht ausbreiten werde. Aber, ich kann mir vorstellen, dass ich meine Not vor einem ausbreite, der ebenfalls in der Not ist. Und das war die Erfahrung, dass man sagen konnte: Ja, das ist meine Not. Und das ist auch deine Not. Und das ist auch die Not... hier von Maria, und von Emil... und wie Ihr alle heißt.

Es ist schön, wenn wir dann spüren können, wir sind angenommen. Die anderen verstehen mich. Und nicht, dass da einer kommt und sagt: ,,Komm, Du musst doch mal einsehen, wenn Du so viel trinkst..." und so weiter. Ihr kennt ja alle diese Melodien, die dann auf Euch zugekommen sind. Aber wenn da einer Euch in den Arm nimmt und sagt:" Du hast die Not auch, die ich kenne", dann ist es etwas anderes, Und das habe ich von Euch gelernt. Und wenn es dann weitergeht und wir immer wieder vermehrt Scham-, Schuld- und Versagergefühle haben, dann wisst Ihr selber, wie es um Euer Wertgefühl bestellt war. Wir brauchen alle ein Wissen, dass wir etwas wert sind und dass wir einem anderen etwas bedeuten. Wenn das kaputtgeht, dann werden wir schwer seelisch krank. Und die Krankheit geht weiter und infiltriert alle Bereiche. Du bist seelisch krank, Du bist körperlich krank, Du bist sozial krank und du verlierst auch den Sinn für das Leben. Das sind nicht die Dummen, die dann ihrem Leben ein Ende gemacht haben. Darum braucht die Alkoholkrankheit auch die Behandlung des ganzen Menschen. Und nun kam AA und brachte nicht nur die Sicht über die Krankheit, AA brachte auch die Sicht über das Gesundwerden. Ich glaube, dass ist das Entscheidende für jedes Gesundwerden, dass man zu der eigenen Realität ,Ja' sagt: ,,So bin ich", und sich selber und anderen nichts vormacht. Aber ich werde Schwierigkeiten haben, anderen nichts vorzumachen, wenn ich immer wieder spüre, die anderen, die machen mich mies, ich habe Nachteile davon. Darum brauche ich Menschen, die genau die Not kennen, die ich habe.

Und das war und ist das Großartige in Euren Gruppen: ,Wir haben zugegeben, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind und unser Leben nicht mehr meistern konnten.' Ich glaube, dass ist der größte therapeutische Vollzug, den ein Mensch leisten kann, dass er zu sich ,Ja' sagt und anerkennt: ,,Hier ist meine Grenze." Bill hat immer wieder gesagt, dass Alkoholiker eine Not haben: "Sie möchten sehr gerne Gott spielen." Das gilt nicht nur für Alkoholiker, das gilt für uns alle. Wir tun oft so, als ob wir allmächtig wären. Der Alkoholiker hat ja die Chance, dass er merkt: Wir Menschen sind begrenzt. Wenn es hier ein Erdbeben gäbe, jetzt und hier der Saal wackeln würde. Ich glaube, in dem Moment wäre unser Gott spielen zu Ende. Dann wissen wir, wie abhängig wir alle sind. Wohl dem Menschen, der diese Chance erlebt hat, das hautnah fühlen zu müssen, denn das kann die große Kehrtwendung sein.

Lothar Schmidt

​Im Folgenden ein Vortrag von Dr. Walther Lechler (1923-2013) aus den späten 70er-Jahren:

Alkoholismus - eine Krankheit?

"Die größte Hilfe ist es, in den Menschen den Wunsch zu wecken, dass sie sich selber helfen möchten." (Rachmanova)

Unter den Publikationswellen der Fachpresse und der Massenmedien über die Gefahren und Auswirkungen des Drogenmissbrauchs wurde das Problem Alkoholismus nahezu völlig begraben.

 

Die in ihrer Protesthaltung bedrohlich erlebte, Drogen gefährdete Jugend wurde zum Sündenbock, auf den die Gesellschaft unter dem Kitzel der durch den Begriff "Rauschgift" angeheizten Phantasien alle ihre angestauten unbewussten Schuldgefühle und Ängste abladen konnte. Hinter dem Gischtdunst des Sensationellen verschwand die unbeschreibliche seelische und körperliche Not von inzwischen rund einer Million ,,Alkoholkranken" in Westdeutschland *). Diese Zahl der erfassten ,,Alkohol-Abhängigen" verdoppelt sich mindestens durch die Dunkelziffer derer, die unter dem Mantel der verschiedensten Diagnosen wie ,,Neurovegetative Dystonie", ,,Herz-Kreislaufneurose", "Magen-Darm-Katarrh", "Orthostatische Dysregulation", ,,Psychophysischer Erschöpfungszustand" usw. die Sprechzimmer und internen Krankenhausabteilungen füllen. Die sicher nicht zu hoch angesetzte Zahl von 1,5 Millionen Erkrankten *) erweitert sich mindestens um das Drei- bis Fünffache, wenn das unmittelbare, nicht alkoholabhängige, soziale und familiäre Umfeld mit einbezogen wird, in dem ausnahmslos neurotische Verhaltensstörungen verschiedenster Schweregrade zu beobachten sind, die nachhaltig Generationen von Medizinern, Erziehern, Juristen und Politikern beschäftigen werden. Die tiefgreifenden Auswirkungen aller dieser in ihrer Fähigkeit der Lebensbewältigung und Gemeinschaftsbildung gestörten 4--6 Millionen Menschen *) auf die gesamte wirtschaftliche Struktur eines Staates wird man mit Sicherheit nie ermitteln können. Desgleichen wird die seuchenartige Breitenwirkung im Sinne einer geistigen Ansteckung auf die Verhaltensbildung nicht abzugrenzen sein.

Teufel Alkohol - Sündenbock Alkoholiker

Die Droge Alkohol, die in unserer modernen Gesellschaft einen legitimen Platz einnimmt, und die dem Staat ein nicht unerhebliches Steueraufkommen sichert, hat durch die Jahrhunderte ihre Opfer gefordert. In Deutschland gab es seit dem 15. Jahrhundert immer wieder Vereinigungen gegen das unmäßige Trinken. So wurde der ,,Erste Orden der Mäßigkeit" von Kaiser Friedrich III. (1439) gegründet Der Sohn Friedrichs I., Maximilian I., gab ,,Reichsabschiede gegen das Trinken". Von Adeligen und Fürsten wurden Orden gestiftet, deren berühmtester der von Landgraf Philipp Moritz von Hessen im 16. Jahrhundert gestiftete "Temperenzorden" ist (Wettley). Erst in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts setzte in Deutschland wie in den übrigen europäischen Ländern die Bildung und Ausbreitung von Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsvereinen ein. Religiöse Massenbewegungen trugen den fanatisch geführten Kreuzzug gegen den "Teufel Alkohol" in alle Schichten des Volkes hinein und gewannen für den Temeperenzgedanken Vertreter höchster Regierungsstellen. Die soziale Verschiebung durch die wirtschaftlichen Umschichtungen des sich entwickelnden Spätkapitalismus (Weetley) und die sich daraus ergebenden Entwurzelungserscheinungen müssen als Ursache einer damals einsetzenden Massenflucht in den Alkoholismus angesehen werden. Forel nannte es ein "gewaltiges Kulturproblem". Er sah im Alkohol ein Kultur verderbendes, wucherndes Gift, das zur Entartung - im Sinne der Lehre von Moral- des Einzelmenschen, der Familie, Sippe, Rasse und schließlich der Menschheit führt (Wettley). In der Enthaltsamkeitsbewegung gegen den Dämon Alkohol, der als die Ursache für den moralischen Verfall der Menschheit angesehen wurde, bot sich ein breites Feld für Individuen und Gesellschaften, ihre Schuldgefühle auf der Suche nach Selbsterlösung in einer läuternden Reaktion abzubauen. Alle Stände wurden davon erfasst. Der Kampf um den moralisch Schwachen und Verkommenen führte zu eingreifenden Gesetzesänderungen und Gesetzesneufassungen. Von diesen seien hier nur die Sonntagsgesetze in England und Schottland und die in fast allen Staaten errichteten Einschränkungen wie Prohibition (The Maine Law 1851, National Prohibition inforcement Act of 1920), Lokal-Option, Verminderung der Zahl der Schankstätten, Gebot früher Polizeistunde, Schankverbot an Jugendliche und Trinker, Verbot privater Schnapsbrennereien und Monopolisierung erwähnt. 1874 wird in Amerika die Öffentlichkeit von einem seltsamen "Kreuzzug" überrascht. Singende und betende Frauen aus allen Ständen ziehen in Scharen umher, belagern die öffentlichen Schankstellen und machen die Wirte zu Bekehrten in eigener Sache, sodass diese die Branntweinfässer herausrollen, den Inhalt in den Rinnstein laufen lassen und öffentlich ihren Sinneswandel verkünden. Mit einem ungeheuren, religiösen Fanatismus wird dieser Kreuzzug unternommen; er ist bezeichnend für den religiösen Charakter des Kampfes gegen den Alkohol, den er bis in die achtziger Jahre des Jahrhundert trägt. und der heute erneut eine Rolle spielt (Wettley)

1788 Alkoholismus als psychosomatische Erkrankung anerkannt

In frühen Veröffentlichungen der Temperenzliteratur wurde der Trunksüchtige als ein Mensch angesehen der körperliche, seelische und soziale Hilfe benötige. In den späteren Jahren, etwa ab 1850, wurde im Alkohol das Werk des Satans gesehen. Seine Opfer waren charakterlich minderwertige, haltlose und willensschwache Menschen, die aufgrund ihrer teils vererbten Anlagen der Sünde verfallen sind. Diese Ansicht hat sich in etwas abgewandelter Form bis zum heutigen Tag im psychiatrischen Denken erhalten und die Behandlung von „AIkoholkranken" unter das unheilvolle Zeichen therapeutischer Aussichtslosigkeit gestellt oder im Sinne einer therapeutischen Resignation bestimmt. Die völlig einseitige Betonung des sozialmoralischen Aspektes der Abstinenz- und Temperenzbewegungen beim ,,Kampf gegen die Droge Alkohol", durch den massive eigene Schuldgefühle mit enormem Lustgewinn abgewehrt werden konnten, trübte den Blick für eine umfassende, ganzheitliche Betrachtung der Problematik ein. So konnte eine erstaunlich moderne Sicht des Alkoholproblems völlig in Vergessenheit geraten und ohne nennenswerte Wirkung auf die Ärzte jener Zeit bleiben, nämlich eine von dem jungen Londoner Arzt Dr. Thomas Trotter 1788 in Edinburgh abgeschlossene und 1804 in London unter dem TItel ,,Esay, Medical, Philosophical und Chemical, on Drunkeness" veröffentlichte Studie. Dort klingen bereits Gedanken an, die an Erkenntnisse moderner Verhaltensforschung erinnern: "So finden wir in der medizinischen Fachliteratur Trunkenheit nur oberflächlich erwähnt unter den der Gesundheit schadenden Einflüssen. Hinweise auf Behandlungen bleiben ungeklärt oder fehlen gänzlich Die Priester gießen den Bannfluch gegen den Alkoholiker von der Kanzel, die Moralisten sind mit ihm nicht weniger streng, wenn sie sein Trinken als eine lasterhafte Entgleisung anprangern. Beide meinen es vermeintlich gut, wenn sie religiöse und moralische Argumente gegen das ihrer Ansicht nach sündige Befriedigen eines niederen Instinktes setzen. Dabei werden die durch Gewöhnung sich einstellende organische Veränderung, das angepasst sein an allgemeine Verhaltensnormen, die geistig-seelischen Aspekte des Alkoholismus völlig außer acht gelassen. Streng medizinisch aber muss Trunkenheit unter die Krankheiten gewählt werden. Sie ist hervorgerufen durch möglicherweise weit zurückliegende Ereignisse, sie löst im Körper Reaktionen aus, die die Gesundheit außer Funktion stellen.

Es muss daran erinnert werden, dass die körperlichen Defekte im Zuge der Alkoholkrankheit nicht die einzigen sind, die behoben werden müssen. Die sich in Suchtform ausdrückende Dauertrunkenheit ist eine Erkrankung des Geistes und der Seele."

Dr. Benjamin Rush betrachtete 1790 in seinen Vorlesungen am Philadelphia College den Alkoholismus als eine Krankheit, Dr. Eli Todd verlangte 1828 die Einrichtung von Behandlungsstätten speziell für Trunksüchtige. Die Connecticut State Medical Society griff 1830 diesen Gedanken auf und trat für medizinische Behandlung dieser Kranken ein. 1833 kamen ähnliche Vorschläge von Dr. Woodward in Worcester, Massachusetts.

Dr. J. Edward Turner aus Bath, Maine, trat 1846 für die Errichtung spezieller Kliniken für ,,Alkoholkranke" ein und wollte mit den damals üblichen Gelübden, dem Argument Willensschwäche und den Moralpredigten aufräumen. Wie seine Vorgänger erntete er nicht nur wenig Erfolg, sondern wurde als verrückt angesehen, ,,Alkoholismus" als Krankheit zu betrachten. Das wäre gleichzusetzen mit einer Entschuldigung für Laster und unmoralischen Lebenswandel, wofür somit jede persönliche Verantwortung entfiele (McCarthy). Dr. Magnus Hus, Professor der inneren Medizin in Stockholm, gebrauchte 1852 erstmalig die Bezeichnung ,,Alcoholicus chronicus" für die mehr und mehr um sich greifende "Seuche der Zivilisation".

1971 Ignoranz und Hilflosigkeit der einen, Leid und Tod der anderen

Weder die seit 1860 in zunehmendem Maße durchgeführten medizinischen Experimente über die Wirkung des Aethylalkohol auf den menschlichen Organismus mit bahnbrechenden Resultaten, noch die seit 1940 bekannte Einteilung der Alkoholismusformen und die Phasenlehre E. M. Jellineks, noch die bereits am 18.6.1968 und 22.11.1968 gefällte Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts in Kassel (AZ 3 RK 63/66), wodurch Trunksucht zur Krankheit im Sinne der RVO, d. h. der gesetzlichen Krankenversicherungen erklärt wurde, haben verhindern können, dass noch heute in ärztlichen Kreisen Meinungen vertreten werden, die den o. a. Ansichten von 1846 sehr ähnlich sind. So äußerte sich Dr. med. Flimm, ständiger medizinischer Mitarbeiter von ,,Das Band zu Millionen", Zeitschrift des Verbandes der privaten Krankenversicherungen e. V. Köln, in der November-Dezember-Nummer 1969 dieses Blattes zu der Frage: ,,Halten Sie die Trunksucht für eine Krankheit?" wie folgt: "Nein. Ich weiß aber, dass Psychiater und Juristen anders darüber denken. Wenn ein Mensch vorsätzlich säuft - ein Grund findet sich hinterher immer - ist er nicht krank, sondern haltlos, genauso wie ein Sexualverbrecher. Ich halte es für absurd, Trunksucht noch mit einer Versicherungsleistung z. B. einem Tagegeld während der Entziehungskur im Krankenhaus zu belohnen. Die Rückfallquote ist gerade bei Trinkern groß. Wir stehen vor einem Riesenkostenaufwand, wenn Trunksucht einfach der Krankheit gleichgesetzt wird. "

Mehr Licht für deutsche medizinische Fakultäten

Dr. Feuerlein vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München teilte in einer Veröffentlichung 1970 die folgenden interessanten Beobachtungen mit:

"Die Information über den Alkoholismus ist vielfach ungenügend. Dies beginnt schon bei der Ausbildung an der Universität: Bei einer Durchsicht sämtlicher Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten und medizinischen Akademien der Bundesrepublik Deutschland vom Sommersemester 1965 bis Wintersemester 1969/70 ergab sich, dass überhaupt nur an den neun Universitäten Berlin, Bochum, Bonn, Düsseldorf, Erlangen,Nürnberg, Frankfurt, Hannover, München und Münster eine Vorlesung über die Fragen, die mit dem Alkohol und der Sucht zusammenhängen, gehalten wurde, und zwar meist nur eine Vorlesung in den gesamten neun Semestern. An der größeren Zahl der Universitäten werden also diese wichtigen Fragen nur im Rahmen anderer Vorlesungen abgehandelt. Wenn sich nun der interessierte Leser Informationen in Lehrbüchern der Psychiatrie sucht, findet er ebenfalls zu wenig.

In neun deutschsprachigen Lehrbüchern der Psychiatrie, deren letzte Auflage in den 60er Jahren herausgekommen war, ist die Prozentzahl der Seiten, die dem Alkoholismus und überhaupt den Suchtproblemen gewidmet sind, der Bedeutung des Problems nicht angemessen. Sie beträgt maximal etwa 5 % (in dem Lehrbuch von Bleuler). Dabei nimmt die Besprechung der Alkoholfolgekrankheiten, insbesondere die der Alkoholpsychosen, den breitesten Raum ein, während die für den praktischen Arzt wichtigeren Probleme, der chronische Alkoholismus sowie die Suchtentwicklung in ihren psychologischen und sozialen Aspekten, kaum berücksichtigt werden. Man könnte versucht sein, die Vernachlässigung des Suchtproblems im medizinischen Unterricht als Ausdruck einer unbewussten Ablehnung des Süchtigen aufzufassen. Sie spielt aber nicht nur bei den didaktisch bzw. literarisch Tätigen eine Rolle, sondern auch bei den praktizierenden Ärzten. Dies hängt u. a. mit der moralisierenden Einstellung gegenüber der Sucht überhaupt zusammen (Gary u. Mitarb.) - z. B. hat die Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit keineswegs allgemein die Zustimmung der Ärzte gefunden.

Hand in Hand mit dieser Einstellung, die sehr interessante medizinhistorische Aspekte hat (Kramm), geht eine Bagatellisierung der Alkoholismusprobleme.

Eine Umfrage bei 520 niedergelassenen Münchner Ärzten (323 Ärzte für Allgemeinmedizin, 142 Internisten sowie 55 Nervenärzte, in Zufallsauslese) hat ergeben, dass das Interesse für die Alkoholismusbehandlung insgesamt relativ gering ist. Nur 30% der Ärzte haben überhaupt geantwortet, davon 43% der Nervenärzte. - Bei der Rundfrage zeigte sich überdies klar, dass von den Ärzten die vorhandenen Möglichkeiten der Therapie bei weitem nicht voll ausgeschöpft werden. *)

Suchtmittel Alkohol, Bestandteil eines kombinierten psychophysischen Reglersystems

Die - zahllosen, modernen Versuche, die "Trunksucht" als Krankheit zu definieren, scheinen zu demselben Ergebnis zu führen wie die Fieberlehren des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (Piquer, Baumes, Stoll, Alard, Franck, Broussais, Pinel u. a.) die, von einer Symptomendominante ausgehend, den Bedürfnissen der Krankheitslehre dieser Zeit Rechnung tragen wollen. Die auch noch so brillante Untersuchung und Beschreibung eines Krankheitsmerkmals wie im Falle der Trunksucht durch E. M. Jellinek (Phasenlehre des Alkoholismus und Einteilung der Alkoholikertypen in Alpha-, Beta-, Gamma-, Delta- und Epsilon-Alkoholismus), die zahlreichen Deutungen des Alkoholismus und die übrigen Einteilungen in Armuts-, Wohlstands-, Frauen-, Jugend-, grüne Witwen-Alkoholismus usw. haben sich für das Verständnis und damit auch für die Behandlung dieser Erkrankung wenig ergiebig erwiesen. Jahrzehntelange Verlaufskontrollen und die Auswertung ausführlicher Krankheitsgeschichten zeigten im Einklang mit den Ergebnissen einer vielseitigen Behandlung, dass die Symptomdominante (Hauptmerkmal) "Sucht" oder "Süchtiges Verhalten", im speziellen hier "Trunksucht" oder ,,Alkoholismus" nicht einfach eine Krankheit in sich ist, sondern bereits selbständig gewordenes Kennmerkmal einer die gesamte Persönlichkeit ergreifenden sozial-seelisch-körperlichen Erkrankung, durch die das Umfeld des Betroffenen schwer in Mitleidenschaft gezogen wird. Dieses sozio-psycho-somatische Krankheitsbild ist eine vielgestaltige, erlernte und von Anbeginn des Daseins eingeübte Fehlhaltung, die dann erst erkennbar wird, wenn im Zusammentreffen mit der Wirklichkeit eine Kette von Konflikten entsteht, die, einem Wiederholungszwang folgend, immer neue Spielarten von Fehlverhalten zeugen. Meist versucht der Scheiternde entgegen aller Vernunft den Konflikt zu leugnen; die Notwendigkeit, die Hilfe anderer in Anspruch zu nehmen, verbissen von sich zu schieben und Scheinlösungen anzustreben, lange bevor der "spirituelle" Lösungsversuch mit der "vergifteten Muttermilch" (Kuiper) unternommen wird. Unzählige Selbsttäuschungsversuche wurden inzwischen in Form von krankhaft ängstlichem Handeln, Leistungsstreben, maximaler Anpassung, Selbstleugnung, Angriffslust, Unterwerfung, Gewissenszweifeln, Zwängen, erhöhtem Tatendrang, erzwungener Geselligkeit usw., Spielarten eines aufgeblähten Ichs, durchgeprobt und in die Verhaltensmuster unter Bindung ungeheurer geistiger Energien eingebaut. Die Chancen, wirklichkeitsbezogen leben zu können, verringerten sich noch mehr, da die Lebensenergie weiter absinken musste. Zahllose Versuche, eine Zustandsänderung durch Verlagerung in körperliche Krankheit (Migräne, Asthma, Anginen, Herz- Kreislaufneurose, Rückenschmerzen, Magen-Darmgeschwüre, Depressionen, Anorexia nervosa usw.) herbeizuführen und damit die ersehnte Rückkehr legitim zu erreichen, führen nicht mehr aus der Teufelsspirale heraus. Im Kontakt mit Alkohol erlebt der an der Wirklichkeit Scheiternde eines Tages, dass er sich dieser gesellschaftsfähigen Droge ganz und anonym aufschließen darf, wie ihm dies in unserer auf Leistung abgestellten und mehr und mehr kontaktarmen Welt einem anderen Menschen gegenüber total versagt geblieben war. Echte Teilnahme hatte er nie gezeigt bekommen. Er hatte sich nie darin üben und darauf einstellen können. Jetzt aber darf er immer und überall, für vergleichsweise wenig Geld, ohne Beschaffungsschwierigkeiten und ohne zunächst aufzufallen, aus dem Karussell seiner unbewältigten Konflikte aussteigen, entspannen, vergessen, abschalten, anscheinend leichter Zugang zum anderen finden; Nähe, Geborgenheit und etwas von umhüllender Wärme spüren, ohne viel Dank sagen zu müssen; angstfrei, Schuld entlastet sich zu fühlen, ohne viele Worte zu verlieren. Der chemische Stoff Alkohol wird in ein neues Verhaltensmuster, in einen seelisch-körperlich-sozialen Regelkreis übend eingebaut und wird dadurch einer der wesentlichsten reflexartig wirkenden Bestandteile der nur noch damit funktionierenden Persönlichkeit. Die auf Grund der Gewöhnung und der Toleranzsteigerung notwendig werdende, größere Zufuhr der Gifte, genauer krankheitserregenden Ursachen, lässt nach einem verschiedenen langen Zeitraum das "sozio-psycho-physische" Regelsystem in sich zusammenbrechen. Der Durst des "Trinkkranken", eine andere Qualität als der normale, körperliche Durst, ist ein Durst nach Freiheit, dem es gelingt, das festungsartige Gefängnis eines eingeschliffenen, funktionierenden, perfekten Regelsystems zu durchbrechen, in dem das Ich bis zur Selbstvernichtung Regie führte.

Die Behandlung dieses sehr vielschichtigen Krankheitsgeschehens, das mannigfach rückwirkenden Einflüssen aus dem Umfeld ausgesetzt ist, konnte von der Medizin her nicht befriedigend gelöst werden. Mediziner hatten von jeher "Trinkkranken" gegenüber erhebliche Verständigungsschwierigkeiten. Die ungenügende eigene Einstellung bei der Behandlung brachte daher auch nur sehr geringe Behandlungserfolge hervor (Chafetz). Erstmals in der Geschichte des Alkoholismus haben Laien von sich aus der Medizin neue Wege gewiesen und Ärzte zu einer neuen Einstellung bringen können.

Wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten

Zwei hoffnungslose Saufbolde, in unserem Jargon zwei heruntergekommene, wesensveränderte, haltlose, willensschwache Psychopathen mit ausgeprägter Oralität, Bill W., 40 Jahre, ein ehemals erfolgreicher Börsenmakler, und Dr. Bob S., 55 Jahre, ein ehemaliger Chirurg, wurden 1935 die Begründer der Anonymen Alkoholiker, einer weltweiten, in über 119 Ländern *) bestehenden Selbsthilfegemeinschaft von Alkoholkranken. Ausschließlich Kranke behandeln andere Kranke, sie treffen sich in Gruppen und sprechen sich mit den Vornamen an. Ein zentrales Problem führte sie unter extremem Leidensdruck zusammen, von dessen Lösung das weitere Leben und alles, was damit verbunden ist, allein abhängt. Titel, Statussymbole, Klassenzugehörigkeit, Nationalität und Religion zählen nicht. Eine ungeheure Not führt sie zusammen und lässt aus ihnen eine echte klassenlose Gesellschaft werden. In einem gleitenden Rollenwechsel wird der Kranke zum Behandler und umgekehrt.

Es ist ein Haufen verkommener Menschen, die sich durch ein erlerntes Verhalten in die Isolation getrieben haben und dadurch zum Strandgut unserer Gesellschaft wurden und in ihrem Selbsthass, in ihrer maßlosen, völlig wirklichkeitsfremden Ansprüchlichkeit, mit ihren sinnlosen, kindhaften Wunschphantasien, ihrem Selbstmitleid, ihren Agressionen, dem ohnmächtigen Protest, den Unterlegenheitsgefühlen, mit der Last ihrer Schuldgefühle, Kritiklosigkeit in der Einschätzung ihrer Lage, mit dem Mißtrauen und Haß, falschem Stolz, der inneren Leere, Neid, mit ihrer Selbstbezogenheit, mit ihrer Abwehr und Selbsttäuschung in Form des Verniedlichens, mit ihren "Charaktennängeln und Unzulänglichkeiten", ihrer Unfähigkeit, Konflikte zu lösen und zu bestehen, ihre Standfläche als Mensch derart verschmälerten, dass ihnen nur noch der Selbstmord auf Zeit mit Spiritus oder der Selbstmord selbst übrigblieb.

Wie kommt es nun, dass diese Versager, diese willenlose Subjekte, "haltlos, genauso wie ein Sexualverbrecher" (Flimm), die sich angeblich ihrer Verantwortung dem Leben gegenüber entzogen haben, denen wir Ärzte und alle, die sich zum Helfen aufgerufen fühlen, rat- und oft fassungslos gegenüberstanden, dass diese geistig und sozial Kranken (Psycho- und Soziopathen) nach oft unzähligen fehlgeschlagenen Behandlungsversuchen unmittelbar beim ersten Kontakt mit den AA in 40 % der Fälle und andere nach einigen Anläufen während eines Jahres in weiteren 20 % der Fälle von ihrer ,,Drangsal" zur Selbstzerstörung mit Alkohol (Spiritus, oft zusammen mit Trockenspiritus = Tabletten) befreit werden und befreit bleiben, wie es eine breite statistische Untersuchung an 11 355 AA-Mitgliedern 1968 ergeben hat (Norris)?

Die Anonymen Alkoholiker haben aus sich selbst heraus, ohne jede "fachliche" Hilfe, gezwungen durch eine den gesamten Menschen erfassende Not einen Bereich unseres Menschseins greifbar entdeckt und diesen übend in die Lebenspraxis umzusetzen gelernt, von der seit Menschengedenken wohl die Rede ist, die aber keinen Platz dort hat, wo das aufgeblasene Ich (Tiebout) regiert. Es ist die dritte Dimension, das Geistige, das Übersinnliche, das Selbst, "die höhere Macht", wie die AA diese Erfahrung neutral nennen oder "Gott, wie ihn jeder versteht". Sie haben uns durch ihre Lebenspraxis, die Wandlung ihrer eigenen Existenz und die ihrer gesamten Umwelt (Kaleidoskop-Effekt) die Wirklichkeit dieses Lebensbereichs neu bewiesen, eine harte Tatsache, vor dem der eine oder andere mit seinem Teil eigener "metaphysischer Demenz" (geistlicher Schwachsinn) (Hübschmann) gerne Abstand nehmen möchte und sehr oft nimmt.

Anonyme Alkoholiker, Durchbruch zur Theo-Psycho-Somatik

Die Entdeckung dieses echten geistigen Lösungsversuches, der immer wieder neu gelingt und wie in einem Naturexperiment immer wieder beobachtet und nachgewiesen werden kann, im Sinne des von C. G. Jung in einem Briefwechsel mit Bill W. erwähnten lateinischen Wortspiels "Spiritus contra Spiritum" (Geist anstelle von Weingeist), ist eine der bedeutendsten Wiederentdeckungen dieses Jahrhunderts. Wie von Ditfurth auf der 23. Karlsruher Therapiewoche ausführte, entwachsen die Naturwissenschaftler ihrer anthropozentrischen (menschenbezogenen ), die Wirklichkeit verzerrenden WeItsicht und werden durch harte Forschungsergebnisse (z. B. Bedeutung der Desoxyribonukleinsäure, Adenosinmonophosphat usw. in Reglersystemen) zur Anerkennung einer allgewaltigen und überall gegenwärtigen Geistigkeit gezwungen, "die es nicht deshalb gibt, weil es uns gibt und unser menschliches Gehirn. Vielmehr ist es ganz offensichtlich umgekehrt, so dass die Natur lebende Organismen von zunehmend komplizierter Struktur und so schließlich auch uns selbst und unser Gehirn nur deshalb hat hervorbringen können, weil Geist, Phantasie und Verstand in dieser Natur von allem Anfang an gegenwärtig und wirksam gewesen sind, lange bevor sie von der Evolution schließlich dann auch individuellen Gehirnen zusammengefasst werden konnten" (v. Ditfurth). Den AA ist aus eigener, erlebter Erfahrung gelungen, die Grenzen des Seelisch-körperlichen zu durchbrechen und sie zur Theo-Psycho-Somatik (Gott-Seele-Körper-Lehre) auszuweiten. Hier kamen Menschen "vom Mond" zurück, wo Leben nicht mehr möglich war. Die Wiederentdeckung des geistigen Bereichs durch die AA und die Umsetzung in die Praxis ist weit mehr als ein "weltanschaulicher Lösungsversuch" der die Anerkennung einer väterlichen Autorität (Mentzel) beinhaltet. Die erlebte Wirklichkeit dieser "geistigen Dimension" befähigt den, der nach Hilfe, nach seiner Zustandsänderung schreit, weil es nicht mehr weitergeht, das "Trapez" loszulassen (Toumier), sich fallenzulassen, einen unsinnigen, mit dem Leben nicht mehr zu vereinbarenden sozial-seelisch-körperlichen Regelkreis, der sich verselbständigte, aufzugeben, um zum Aufbau eines neuen, brauchbaren Regelsystems zu kommen. Das Unbewusste, das zur "Hölle" werden musste, wird oft schlagartig neutralisiert und entmachtet. Es verliert seinen Schrecken und dies ohne langwierige Analyse (Erforschung) seiner Entwicklungsgeschichte und lebensgeschichtlicher Zusammenhänge. Es setzt aber die Bereitschaft zum "Surrender" (Tiebout), zu einer bedingungslosen Kapitulation unter das Geistige voraus, was einem Selbstmord, Morden des Selbst, das lebensunfähig war, gleichkommt. Dies kann meist nur von dem Menschen vollzogen werden, der wirklich am Ende ist, der "hit bottom" erlebt hat, dem keine Hintertür mehr offen bleibt wie im Zustand des "Submission" (Tiebout), in dem noch gehofft wird, es mit dem alten Regelkreis oder Teilen daraus eines Tages wieder zu schaffen. Das geistige Programm der AA, die sog. Zwölf Schritte, herausgemeißelt durch die ausweglose Not in Jahren des Suchens und Experimentierens aus einer Fülle von sich widersprechenden Erfahrungen, beinhaltet nicht Gebote noch Vorschriften, sondern stellt Übungsanweisungen zur Meisterung des Unbewussten zur Verfügung, die in über 40 Jahren des Bestehens und der Praxis der AA nur immer wieder in ihrer Richtigkeit bestätigt wurden.

Die "Zwölf Schritte" Übungsanweisungen für einen neuen Lebensweg

1. Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten.

2. Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.

3. Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen.

4. Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.

5. Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu

6. Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.

7. Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.

8. Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten und wurden willig, ihn bei allen wiedergutzumachen.

9. Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut - wo immer es möglich war -, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.

10. Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.

11. Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott - wie wir Ihn verstanden - zu verbessern.
Wir baten Ihn nur, Seinen Willen für uns erkennen zu lassen und um die Kraft, ihn auszuführen.

12. Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.

Selbsterkenntnis durch Fremderkenntnis

Die Zwölf Traditionen sind Erfahrungen, die den Bestand und die "Dynamik des Vorläufigen" (Schutz) dieser völlig unorganisierten Notgemeinschaft vor dem Tod durch Institutionalisierung (Erstarrung in Vorschriften) schützen wollen.

Die Formulierung der Zwölf Schritte mag beim ersten Zusammentreffen an eine Sekte erinnern und sofort eine gewohnte, massive Abwehr hervorrufen. Wer am Ende ist, hat den Vorteil, dass er nicht mehr wählerisch sein kann. Er hat den direkten Zugang. Wer am Verdursten ist, will nur Wasser. Ihm ist's gleich, in welchem Gefäß es ihm gereicht wird, und welche Farbe es hat.

Der Erste Schritt ist der Vollzug einer bedingungslosen Kapitulation, der meist getragen von der Gruppe erfolgt, wo der Neuling in den Lebensgeschichten eine Möglichkeit zur Identifikation (Selbsterkenntnis) und damit zur Selbstanalyse (Selbstbeurteilung) hat. Er sieht und erkennt sich im Spiegel des anderen - Selbsterkenntnis durch Fremderkenntnis (Schwöbel). In der einheitlichen Gruppe gibt es nur eine Verständigungsebene, die horizontale. Keiner steht über dem anderen. Im Moment des Angenommenseins in der Gruppe und des Erkennens des eigenen ausweglosen Zustandes, den der Betreffende nie wahrhaben wollte und durfte und den er immer wieder aus eigener Kraft im Bedürfnis der Befriedigung seiner Eigenliebe selbst lösen wollte, kann das gesamte, raffiniert ausgebaute Abwehrsystem, das alle verfügbaren Lebensenergien in der Endphase gebunden hatte, aufgegeben werden. Dadurch werden vorher nie gekannte Kräfte freigesetzt, die dem Kranken dann auch als Willenskraft zur Verfügung stehen, an denen es ihm, oberflächlichen Beobachtern zufolge, mangeln sollte. Das Erlebnis in der Gruppe, nicht der einzige Versager zu sein, führt zu einer gewaltigen Schuldentlastung durch die ebenfalls unsinnig eingesetzte Kräfte entbunden werden. Im Schutz der Gruppe, die zunächst als "die höhere Macht" inmitten einer feindlichen, unüberwindbaren Welt erlebt wird, kann sich in kleinen Schritten über 24 Stunden, Tag für Tag, der Aufbau einer neuen Haltung und eines wirklichkeitsbezogenen sozio-psycho-somatischen Regelsystems (Grundlage für das Zusammenwirken von Körper und Geist wie für die Beziehungen zur Umwelt) entwickeln. Diese Gruppensitzungen sind wie kaum in einer anderen Therapiegruppe auf die Wirklichkeit bezogen und müssen es sein. Das störende Symptom wird wie in einem verhaltenstherapeutischen Vorgehen gezielt bearbeitet. Das Wichtigste ist zunächst, nicht mehr zu trinken. Die totale Abstinenz, der Vollzug des 1. Schrittes, stellt die bedingungslose Kapitulation (Surrender) dar und führt zwangsläufig zur Aufgabe, zum vollständigen Zusammenbruch der augenblicklichen Lebensform (way of life). Die Droge Alkohol wurde zum untrennbaren Bestandteil eines nicht mehr zu beeinflussenden, automatisierten Reglersystems, ohne den und mit dem Leben nicht mehr möglich war. Der Hilfesuchende "verliert sein Leben" um einer neuen Geisteshaltung willen (frame of mind). Behielte er es, würde er eines sicheren Todes sterben. Die wissende und geistig starke Gruppe (Kohärenz) stellt dem Neuling den Raum, in dem sich der Mysterientod (Suicid, Regression) vollziehen darf, der über viele Wachstumskrisen und Wandlungsformen zu einer neuen Existenz (wirklichkeitsgerechtem sozio-psycho-physischen Reglersystem ) führt. Dies ist die Voraussetzung für die Lösung aller danach anstehenden Probleme, die - wie die älteren in der Gruppe an ihrem Leben zeigen können - aus sich heraus geregelt werden können. Hier bekommt das Sprichwort "Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott" eine neue, erfassbare Bedeutung.

In den Gruppen wird keinerlei materielle Hilfe geboten. Ein solches Vorgehen würde die zur Nachreifung und zum Mündigwerden notwendige eigene Mitarbeit des Hilfesuchenden sofort abschwächen. Die erlebte Schuldentlastung und die Möglichkeit, seinen Panzer (Abwehrsystem) abzulegen, gibt neue Hoffnung und setzt viel Kraft frei, die, wie vorstehend erwähnt, beim ersten Zusammentreffen mit den Gruppen in 40 % der Fälle den Drang zum Trinken und damit den Versuch zur Aufrechterhaltung einer sinnlosen Lebensweise sofort aufhebt.

Dimension "Gott, wie Ihn jeder versteht" - Herrscher über das Unbewusste

Die, in allen Ländern dieser Erde, wo es AA-Gruppen gibt, fast immer wiederkehrende Grundmelodie der Lebensberichte, die zusammen mit dem dodekadischen Programm, die Gruppentherapiestunden (Meetings) mit Inhalt erfüllen, geben dem durch das Leiden im Hören geschärften Hilfesuchenden mit all den darin enthaltenen Obertönen die Möglichkeit zum Selbst-Erkennen. Er darf erkennen, dass hier Menschen sind, deren Sprache er versteht ("die Sprache des Herzens") und die ihn in seinem derzeitigen Zustand nur zu gut verstehen und - entgegen seiner sonstigen Erfahrung - ihn ganz annehmen, d. h. lieben können. Der Verstoßene, Ausgestoßene findet wieder einen Platz, wo er mit Herzlichkeit angenommen ist, wo er bleiben darf, wenn er will. Wo er sich nicht verstellen muss. Wo er echten menschlichen Kontakt und echtes Verstehen findet, wonach er gehungert hat. Er darf seinen Selbsthass und damit den Hass und seine verzehrenden Rachewünsche gegen andere ablegen und sich selbst - wie er gerade ist - annehmen, sich gernhaben und dabei entdecken, dass er dadurch befähigt wird, die anderen wieder so anzunehmen wie sie sind und nicht, wie er sie haben möchte. Er wird von sich selbst befreit und darf das Du finden.


In dem anderen, der einen neuen Bezug zur Welt und die Fähigkeit zur Konfliktbewältigung oder auch zur Annahme eines momentan nicht zu ändernden Zustandes lernend, übend, ringend erworben hat, findet er die Hoffnung für sich und seinen eigenen Weg. Er darf in dem stärkenden und beschützenden Raum der Gruppe an etwas glauben, an sich selbst wieder glauben, d. h. - wenn, dem sprachlichen Ursprung des Wortes "glauben" gefolgt wird: glauben, geloben, lieben - sich wieder lieben, annehmen und dadurch fähig werden, auch die anderen, denen er die Schuld für sein Versagen jahrelang in verbissenem Hass zuschob, auch mit ihren ganzen Fehlern und Unzulänglichkeiten annehmen. Er lernt und begreift konkret, was Demut ist und auch die wenig geübte Fähigkeit Verzeihen, die leicht als Schwäche ausgelegt wird. Er erfasst, was das Sprichwort bedeutet: "Der Klügere gibt nach." In dem unmittelbaren Erleben einer konkreten Kraft, die in ihm und um ihn herum - dem Kaleidoskop-Effekt ähnlich - eindrucksvolle Veränderungen hervorzubringen vermag (Glaube, der Berge versetzt), wird der Hilfesuchende fähig, Abstand von seiner Ich-Sucht zu gewinnen, das Maß aller Dinge sein zu wollen, alles mit seinem Verstand, seinem augenblicklichen, konflikterzeugenden sozio-psycho-physischen Regelsystem bewältigen zu wollen. Er findet zu einer völlig neuen, ihm unbekannten Seite in sich selbst, von woher ganz natürlich Kraft und Einsicht kommen, die er wirklich fassen kann. Glauben wird zum Wissen, auch für den hartgesottensten Gottesleugner und Verneiner jeder höheren Erkenntnis, der durch den Weichmachereffekt der Gruppe für eine andere, neue Realität offen wird.

Er lernt in dem wirklichkeitsvermittelnden Gruppenprozess an Hand seiner eigenen täglichen Erfahrung, dass wahres Leben, der Sinn nur im „hic et nunc“, „hier und jetzt“ gegenwärtig ist. Wenn er im „Jetzt“ alle die ihm zur Verfügung stehenden Kräfte voll einsetzt, ist er bereits für die Zukunft gewappnet. Die Angst vor dem Morgen schwindet. Das Gestern, mit all seinen Verfehlungen und Irrungen, hat er anzunehmen gelernt, denn er hat erfahren dürfen, dass ihm die Gruppe verziehen hat. Jetzt muss und kann er sich selbst verzeihen. Er lernt, im Augenblick zu leben und sich zu behaupten, befreit von der Last zweier Tage, die für ihn nicht existieren dürfen: Gestern und Morgen. Hier liegt der heilende Schlüssel für die Bewältigung der Vergangenheit. Er ist in allen geistigen Wegen und Übungen seit Beginn der Menschheitsgeschichte bekannt.

Im Rahmen des Übungsprogramms, das nur wirkt, wenn der Hilfesuchende regelmäßig mit den anderen an sich arbeitet, lernt er, dass seine Aggressionen, mit denen er anderen und sich nur Leid zufügte, seine Unfähigkeit waren, bei sich und seinem Verhalten der Wirklichkeit gegenüber, die Schuld zu suchen. Im Interaktionsfeld der Gruppe, den "Spiegelfechtereien", erfährt er sich und seine wahre Natur in vielfältigem Licht. Er begreift, dass er auf Grund seines Fehlverhaltens zum Projektionsfeld (Zielfläche) für den anderen wurde, der gemäß seinem eigenen Wesen und seiner eigenen Schwierigkeiten nicht mit dem gezeigten Verhalten fertig werden konnte. Im Rahmen des Gruppenprozesses lernt er, dass der ,,Anlauf“ (aggressio, aggredior) des anderen gegen ihn, wenn er berechtigt war, nur sinnlos mit einem Gegenangriff beantwortet werden kann. Wenn der Angriff ungerechtfertigt war, kam er aus dem Unvermögen des anderen, mit einer Situation im Beziehungsfeld beider fertig zu werden. Man würde dem anderen, der in einer erkennbaren Not steckt, mit einem Gegenangriff nicht helfen. Das Übungsprogramm der Zwölf Schritte hilft bei der Selbsterforschung und bei der Erkenntnis der aktuellen Situation. Hierdurch kommt es zu einem Abbau der gestauten Angriffslust. Dieser geistige Weg ist ein bereits praktiziertes und bewährtes Modell der Aggressionsbewältigung, von dessen Verwirklichung das Leben des Kranken abhängt. Nicht verarbeitete Spannungen, entstanden aus der Verweigerung des Lernprozesses, aus dem noch Verrücktsein, sind Wegbereiter des Rückfalls in den alten Regelkreis.

Die gewählte Anonymität soll das einzelne Mitglied nicht nur vor der Abwertung durch die intolerante Gesellschaft schützen, sondern auch vor der Gefahr, dass sich der einzelne aus der Gruppe herausheben möchte. Dadurch würden wertvolle Energien, die zur Bewältigung der täglichen Aufgaben bereitgehalten werden müssen, wieder dem sich aufblähenden Ich (inflated ego) zugeführt und der alte Regelkreis wieder belebt Dies bedeutet erfahrungsgemäß: Rückfall in alte Verhaltensweisen.

Gefahren

Unter den Anonymen Alkoholikern können die verschiedensten Reifungsprozesse beobachtet werden, vom "Surrender" (sich ergeben) bis zum "Submission" (Unterwerfung). Das einzelne Mitglied ist nicht typisch für die AA, sondern stellt nur einen Teilprozess dar. Oft vollziehen einige nur den 1. Schritt und praktizieren den 12. Schritt, um von ihrer eigenen Problematik ablenken zu können und der Arbeit an sich selbst enthoben zu sein. Diese sog. "Two-Steppers" weisen eine hohe Rückfallquote auf. Manche Mitglieder erleben sich bei den AA in einer sozial-pathologischen Exklusivität (krankhafte, soziale ,,Besonderheit") und trennen sich dadurch von den anderen "gewöhnlichen Leuten" so gewaltsam wie sie es vorher durch das Trinken taten. Andere wiederum neigen aufgrund eines Zwangsverhaltens zum Einhalten bestimmter Rituale und einer der Dynamik der Gruppen abträglichen,liturgischen Organisation. Diese geschilderten, unausgereiften Spielarten können oft erstaunlich lange, gestützt von der Gruppe, einen Zustand der "Trockenheit" aufweisen, ohne jemals nüchtern zu werden. Gegen "Machthungrige" erhebt sich sehr schnell das "group conscience" (Gruppengewissen), das einen Selbstreinigungsprozess einleitet. Es erkennt auch sehr schnell den Rückfall in alte Verhaltensweisen, bevor das Trinken einsetzt. Die AA nennen diesen oft von Laien und Ärzten selten erkannten Zustand den "trockenen Rausch" (dry drunk), in dem das psychische Bild das sich anbahnende physische Geschehen bereits widerspiegelt.

In der Pionierzeit der AA von 1935 bis 1941 stellten die nächsten Angehörigen der Kranken fest, dass familiäre Spannungsfelder auch dann weiterbestanden oder sogar schlimmer wurden, wenn der ,,Alkoholiker" bei den AA nüchtern geworden war. Dies hing eng mit dem Rollenwechsel zusammen, der durch das Nüchternwerden des Alkoholkranken im Familienverband unweigerlich eintreten musste.

Die Angehörigen und Freunde der AA erkannten bald, dass sowohl ihre Partnerwahl wie auch ihr Unvermögen, mit dem Kranken und seiner Störung fertig zu werden, innig mit ihren eigenen Fehlhaltungen zusammenhingen. Auch erlebten sie als Bedrohung, dass der Kranke einen Reifungsprozess durchmachte und Verhaltensänderungen aufwies, von denen sie empfindlich - im Sinne eines Kaleidoskop-Effekts - betroffen wurden. Sie begriffen, dass sie selbst eine Wandlung in ihrem Verhalten erfahren müssen, wenn der ehemals kranke Nächste sich nicht jetzt - wie vorher durch das dranghafte Trinken - auf einem neuen und anderen geistigen Weg vom Partner entfernen sollte.

Das Programm wurde für die Angehörigen entsprechend abgewandelt. 1949 gab es bereits 87 Angehörigen-Gruppen oder Kontaktpersonen.

Heute *) bestehen viele tausend Al-Anon-Gruppen mit zahlreichen Alateen-Gruppen, in denen Kinder und Jugendliche aus Alkoholikerfamilien sich über ihre Schwierigkeiten mit dem einen oder anderen Elternteil in einem Gruppen- oder Lernprozess klar zu werden versuchen. Es kann nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, welche ausschlaggebende Rolle es für einen Jugendlichen spielt, in solchen Gruppen ein anderes Vater- oder Mutterbild und die natürliche Loslösung von den oft sehr gefühlsbetonten Elternbeziehungen zu erfahren. In der Zusammenarbeit all dieser Gruppen wurde die von Ruth Fox geforderte "totale therapeutische Atmosphäre" geschaffen, in der das AA-Mitglied und seine Angehörigen, zusammen mit den Freunden einen Nachreifungsprozess und Abstimmung aufeinander erfahren dürfen.

Die Wirksamkeit des Programms ist inzwischen auf andere seelisch Gestörte übergegangen und hat dort zu Gruppenaktivitäten mit beachtlichen Erfolgen geführt. So haben sich in den USA Gruppen von ,,Emotions Anonymous", ,,Neurotics Anonymous", "Gamblers Anonymous", "Schizophrenics Anonymous" usw. - um nur einige zu nennen - gebildet. Sie erfahren bei Ärzten und Krankenhäusern größte Beachtung und Unterstützung. Manche Kliniken haben das Gruppenprogramm in ihre Therapie und vor allem in die nachgehende Betreuung fest mit eingebaut. Synanon, eines der interessantesten und erfolgreichsten gruppentherapeutischen und soziologischen Experimente der Neuen Welt bei Drogenabhängigen, wurde von einem AA-Mitglied (Chuck Dederich) 1958 in Santa Monica, Califomia, ins Leben gerufen. Aus Synanon heraus entwickelte sich das Daytop Village (Drug Addicts Treated on Probation), das Synanon an Dynamik nicht nachsteht. Keine Erkrankung und deren Therapie hat jemals einen derartigen gesellschaftspolitischen Einfluss gehabt wie die Fehlhaltung mit der Symptomdominante Alkoholismus. Spirituelle Erfahrungen aus dem Naturexperiment der AA haben neue Einsichten in die vielschichtige und soziodynamische Struktur dieser Störung gebracht und neue Impulse für deren Behandlung gegeben. Sie hat vor allem uns den Blick hinter die Bühne des Gefühlslebens auf einen Hintergrund werfen lassen, den uns bisher der mächtige Intellekt verstellt. hatte. Die AA haben gezeigt, dass jeder von uns in das Dunkel des Unbewussten Licht fallen lassen kann, das die Scharen der Dämonen, wenn er sich klein macht und nicht mehr Angst gebärende Schatten wirft, vertreibt. Es liegt an uns, wie groß unsere Scheuklappen noch sein sollen.

Erlebte Wirklichkeit

Der hier unternommene Versuch, etwas von dem Wirken der AA spüren zu lassen, leidet an der Unvollständigkeit und der Tatsache, dass beim "Übersetzen" viel verlorengeht. Wer die Gruppenwirklichkeit der AA erleben möchte, muss sie selbst suchen. Auch als Nicht – Alkoholiker ist jeder dort in den öffentlichen und halböffentlichen Meetings willkommen. Vielleicht wird der eine oder andere die Worte von Abrahm Lincoln bestätigt finden, die einer in Springfield, lliinois, gehaltenen Rede vom 22. Februar 1842 entnommen sind:
,,Nach meiner Ansicht sind diejenigen von uns, die nie Opfer (des Alkoholismus') geworden sind, davon eher verschont geblieben durch einen Mangel an Appetit als durch irgendeine geistige oder moralische Überlegenheit. Ich glaube dass in der Gruppe der gewohnheitsmäßigen Trinker jeder mit seinem Kopf und seinem Herzen jedem Vergleich mit allen Zugehörigen zu irgendwelchen anderen Gesellschaftsschichten standhält."

*) Die angegebenen Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1975

Walther Lechler
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